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Kein schlechtes Zeugnis

Bernd Riegert16. Oktober 2013

Trotz Kritik an Polizeigewalt und Verstößen gegen Grundrechte will die EU-Kommission die schleppenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben. EU-Parlamentarier und Mitgliedsstaaten sehen das teils kritisch.

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EU-Flagge mit türkischem Halbmond und Stern in der Mitte (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Seit Jahren dümpeln die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei vor sich hin. Seit 2005, als die Verhandlungen offiziell begannen, gab es zwar etliche Reformen in der Türkei, aber das Hauptproblem konnte nie gelöst werden. Da die Türkei nach wie vor das EU-Mitgliedsland Zypern nicht anerkennt, konnte kein einziges Verhandlungskapitel tatsächlich abgeschlossen werden. Die Türkei hält den Nordteil Zyperns militärisch besetzt.

EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle stellt in diesem Jahr der Türkei ein mittelprächtiges Zeugnis aus, trotz der brutalen Niederschlagung von Demonstrationen im Mai und Juni, die im Istanbuler Gezi-Park begonnen hatten. Füle glaubt, dass die Beitrittsverhandlungen endlich wiederbelebt werden müssen. "Ich habe die Stimmen gehört, die als Antwort auf die Ereignisse im Gezi-Park verlangt haben, die EU solle sich zurückziehen. Aber die Botschaft der EU-Kommission ist eine andere: Die EU muss ihr Engagement sogar ausweiten und die Türkei und die türkischen Bürger unterstützen. Deren richtigen Erwartungen an Reformen müssen erfüllt werden, um Meinungs- und Versammlungsfreiheit auszuweiten", sagte Stefan Füle am Mittwoch (16.10.) in Brüssel bei der Vorstellung des sogenannten Fortschrittberichts.

Lob und Tadel für die Türkei

Die Gewalt gegen Demonstranten habe ihm große Sorgen bereitet, so Füle. Die Rolle der Polizei müsse aufgeklärt werden. Das Paket aus demokratischen Reformen, das Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor einigen Wochen vorgelegt habe, sei ermutigend. Der Erweiterungskommissar lobte auch Fortschritte bei den Friedensgesprächen mit den Kurden in Südost-Anatolien.
Bei der Rechtsstaatlichkeit sieht die EU-Kommission allerdings noch Mängel. Die türkische Justiz lasse es an Respekt vor den Grundrechten wie Meinungsfreiheit mangeln.

Polizeikette bei einer Demonstration in Ankara (Foto: REUTERS)
Bilanz der Demonstrationen in der Türkei im Juni 2013: 4 Tote, 7500 VerletzteBild: Reuters

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, Elmar Brok (CDU), sprach sich dafür aus, den Beitrittsprozess mit der Türkei fortzusetzen. "Es ist nötig, den Beitrittsprozess mit der Türkei neu auszurichten, damit entscheidende Reformen bei den Grundrechten voran gebracht werden können. Wir wollen sicherstellen, dass die EU die Richtschnur für Reformen in der Türkei bleibt. Darum ist es positiv, dass der türkische Jusitzminister weitere Reformen in der Rechtsprechung zugesagt hat", sagte Elmar Brok in Brüssel.

Türkei kritisiert Europa

Broks eigene Partei, die CDU, und die bisherige Bundesregierung sind gegen einen Beitritt der Türkei, sondern treten für eine "besondere Partnerschaft" am Ende eines langen Verhandlungsmarathons ein. Brok und andere konservative Europa-Parlamentarier verweisen gerne auf die skeptischen Äußerungen des türkischen Europaministers Egemen Bagis. Der geht inzwischen davon aus, dass die Türkei irgendwann bei dem Status endet, den auch Norwegen hat. Enger Handelspartner, fast identische Gesetzgebung mit der EU, aber kein Stimmrecht in den Gremien in Brüssel und Straßburg. Bagis wirft den Europäern vor, sie hätten Vorurteile gegen sein Land. Der Europaminister will sich erst am Wochenende zu den Angeboten aus Brüssel äußern. Er ist verschnupft, weil der Bericht während des islamischen Opferfestes herauskommt. "Das wäre so, als würden wir Weihnachten der EU ein wichtiges Dokument übergeben", soll Begis nach türkischen Medienberichten gesagt haben.

EU-Abgeordnete fordert Stopp der Verhandlungen

EU-Kommissar Füle forderte die türkische Regierung auf, Reformen konsequent umzusetzen: "Der Ball liegt im Feld der Türkei. Spielen Sie den Ball. Das ist eine wunderbare Gelegenheit, den Bürgern zu zeigen, welche Vorteile die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei bringen." Die EU will mit der Türkei über visa-freien Reiseverkehr verhandeln, sobald die Regierung in Ankara zusagt, abgelehnte Asylbewerber und illegale Migranten in die Türkei zurückzuführen. Die grüne Europa-Abgeordnete, Ska Keller, die Mitglied im Türkei-Ausschuss des Parlaments ist, verlangte die schnelle Öffnung der Verhandlungskapitel 23 und 24 über Grundrechte und Justizpolitik. Nur so könne die Türkei an europäische Normen herangeführt werden. Die Verhandlungskapitel müsste der Ministerrat eröffnen, also die Vertretung der 28 EU-Mitgliedsstaaten, die die Beitrittsverhandlungen formell führt. Dort ist die Öffnung neuer Kapitel allerdings umstritten.

EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle Anfang Juni in Istanbul (Foto: Reuters)
Will noch intensiver verhandeln: EU-Erweiterungskommissar Stefan FüleBild: Reuters

Die konservative Europa-Abgeordnete Renate Sommer, ebenfalls Mitglied im Türkei-Ausschuss, kritisiert das Zeugnis, dass die EU-Kommission der Türkei ausstellt, scharf. Sie fordert die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen. Die Türkei dürfe nach den Polizeiaktionen gegen Demonstranten und der massiven Inhaftierung kritischer Journalisten nicht ungeschoren davonkommen, erklärte Renate Sommer in Brüssel. "Die Mitgliedsstaaten müssen der Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel eine klare Absage erteilen. Das ist die einzige Sprache, die Premierminister Erdogan versteht."

Stolperstein "Ankara-Protokoll"

Wie in jedem Jahr seit 2005 fordert der Fortschrittsbericht von der Türkei, zyprische Flugzeuge und Schiffe das türkische Staatsgebiet ansteuern zu lassen. Das hatte die Türkei im sogenannten "Ankara-Protokoll" zugesagt. Passiert ist nichts. Pflichtgemäß appellierte Stefan Füle an die türkische Regierung: "Es ist dringend erforderlich, dass die Türkei ihren Verpflichtungen nachkommt und das Protokoll voll umsetzt." Der Erweiterungskommissar forderte die griechischen Zyprer im Süden und die türkischen Zyprer im Norden auf, die ausgesetzten Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der Mittelmeerinsel unter Vermittlung der Vereinten Nationen fortzusetzen. Vor einer Lösung der Zypernfrage sind wirkliche Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen nur schwer vorstellbar.

UN-Pufferzone in der Ledra-Straße in Nikosia, Zypern (Foto: DW/Bernd Riegert)
Der Norden ist türkisch besetzt: Eine Mauer teilt Nikosia auf ZypernBild: DW/B.Riegert