EU-Mercosur-Abkommen - eine unendliche Geschichte
19. Mai 2024Bloß den rechtspopulistischen Parteien um Marine Le Pens "Rassemblement National" keine Gratis-Wahlkampfmunition liefern. Ja nicht die französischen Landwirte noch weiter verärgern, die mit ihren Protesten das Land wochenlang lahmgelegt haben. Am besten also die heiße Kartoffel nicht anfassen und vielleicht so noch ein paar Stimmen für die Europawahl ergattern, bei der besonders in Frankreich ein drastischer Rechtsruck droht.
Und deshalb sagte der französische Präsident Emmanuel Macron Ende März in Brasilien über das geplante, weltweit größte Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den südamerikanischen Mercosur-Staaten mit insgesamt 780 Millionen Menschen Sätze wie: "So wie es jetzt vorliegt, ist es ein sehr schlechtes Abkommen." Oder: "Lassen wir den Mercosur von vor 20 Jahren hinter uns" und "Lassen Sie uns ein neues Abkommen schließen".
Macrons Sätze hallen Wochen später noch nach. Der seit fünf Jahren eigentlich fertig ausgehandelte Vertrag zwischen der EU und Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela liegt weiterhin auf Eis. Geschichte wiederholt sich: Auch 2019 hatte Frankreich das Abkommen blockiert - damals wegen des rechtsextremen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und seiner umstrittenen Amazonas-Politik.
Deutschland treibt an, Frankreich tritt auf die Bremse
Jetzt treibt den französischen Staatschef die Angst um, Argentinien, Brasilien und Uruguay könnten die Europäische Union mit Billigfleisch fluten. Und die Bauern Frankreichs deswegen erneut auf die Barrikaden gehen. Die deutsche Industrie macht jedenfalls Druck, den Vertrag zur Not mit qualifizierter Mehrheit auch gegen Frankreich zu beschließen.
Vor allem die Chemieriesen BASF und Bayer, aber auch die Automobilindustrie mit Daimler und Volkswagen wittern ein großes Geschäft. VW sagt auf Anfrage der DW: "Volkswagen steht für eine offene, freie und regelbasierte Handelspolitik und setzt sich für eine zügige Ratifizierung des Mercosur-Abkommens ein."
Fragt man in Brüssel nach, geben sich die Unterhändler trotz der Verzögerung betont gelassen. Olof Gill, Sprecher der EU-Kommission für Handel und Landwirtschaft, sagt gegenüber der DW: "Die EU-Mercosur-Teams stehen auf technischer Ebene weiterhin in Kontakt, um die noch offenen Fragen zu klären. Die EU konzentriert sich weiterhin darauf, sicherzustellen, dass das Abkommen die Nachhaltigkeitsziele der EU erfüllt und gleichzeitig die Empfindlichkeiten der EU im Agrarsektor berücksichtigt."
Die schier unendliche Geschichte der Verhandlungen zwischen EU und Mercosur schreibt also ein neues Kapitel. Sie begann 1999. Der Handel mit bestimmten Produkten zwischen den beiden Kontinenten sollte erleichtert und Zölle gesenkt werden. Seit nunmehr 25 Jahren scheint sie eine Chronik der verpassten Gelegenheiten zu sein. So auch Ende 2023, als noch keine Traktoren durch die französischen Städte tuckerten, und der Moment eigentlich günstig war.
Argentinien will Abkommen unterschreiben
Aber auf der anderen Seite des Atlantiks wollte die scheidende argentinische Regierung um Präsident Alberto Fernández ihren Nachfolger nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Tatsächlich hatte ja der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei noch damit Wahlkampf gemacht, den Mercosur verlassen zu wollen und Brasiliens Präsidenten Lula da Silva als "tobsüchtigen Kommunisten" und "Gauner" bezeichnet.
Jetzt ist Milei Präsident, und von einem Mercosur-Aus ist keine Rede mehr. Stattdessen hat der begeisterte Anhänger des Freihandels bereits signalisiert, den Vertrag mit der EU sofort unterschreiben zu wollen. "Die Regierung von Präsident Milei will die argentinische Wirtschaft reformieren, sie für mehr Handel öffnen und eine stärkere internationale Präsenz Argentiniens erreichen. Zusammen mit den anderen Mercosur-Staaten wurden bereits Freihandelsabkommen mit Singapur und den EFTA-Staaten (Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz, die Red.) unterzeichnet", sagt Marcela Cristini, leitende Ökonomin der argentinischen Stiftung für wissenschaftliche Untersuchungen in Lateinamerika (FIEL), gegenüber der DW.
Umso größer ist in Buenos Aires die Verwunderung, dass sich jetzt die Europäische Union, genauer Frankreich, quer stellt. Schon mehren sich auch in Argentinien die Stimmen, ebenfalls nochmal das Abkommen auf Vorteile für das eigene Land abzuklopfen. Cristini hält zum Beispiel die Anforderungen der Europäischen Union beim Thema Umwelt für übertrieben. Die argentinische Viehzucht sei viel umweltfreundlicher als die in Europa. Hintergrund: Die Europäische Union pocht beim Abkommen auf eine Zusatzerklärung mit Sanktionen bei Nichteinhaltung von Umweltzielen.
"Die Wettbewerbsfähigkeit der Mercosur-Agrarindustrie ist weltweit anerkannt, und die Konkurrenz durch seine Exporte ist gefürchtet. Gleichzeitig gehört der CO2-Fußabdruck der Mercosur-Länder bei agroindustriellen Produkten zu den niedrigsten der Welt, " erklärt Cristini.
China als Nutznießer des Verhandlungsstopps
Die Europäische Union könne vor allem in die in Südamerika reichlich vorhandene grüne Energie investieren, so die Wirtschaftswissenschaftlerin. Viel Zeit sollte sich die Europäische Union jedenfalls nicht lassen, denn der Elefant im Raum beim Abkommen zwischen EU und Mercosur beobachtet die stockenden Verhandlungen seit Jahren ganz genau: China.
Zwar hatte Milei im Wahlkampf noch gegen das Reich der Mitte gewettert und gesagt, keine Geschäfte mit kommunistischen Ländern machen zu wollen. Doch China würde kommen, wenn Argentinien riefe, ist sich die Ökonomin sicher. Wobei: China ist schon längst da. 21 Länder Lateinamerikas und der Karibik wollen beim globalen Handelsprojekt "Neue Seidenstraße" mitmachen.
"Die Mercosur-Länder sind Welthändler, und China ist einer der Hauptabnehmer von Agrar- und Industrieprodukten. Diese Situation wird sich nicht mehr umkehren. Im Falle des Mercosur ist China Handelspartner Nummer Eins oder Zwei der einzelnen Länder", so sie Wirtschaftswissenschaftlerin.
Umweltschützer setzen weiterhin auf Scheitern
Derweil wird Emmanuel Macron auch zum letzten Hoffnungsträger und Strohhalm der Menschen, die das Freihandelsabkommen rundum ablehnen. Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen in Europa und Südamerika laufen seit Jahren Sturm gegen die Pläne. Der Halbsatz des französischen Präsidenten, einen neuen Vertrag auszuhandeln, welcher "der Entwicklung, dem Klima und der biologischen Vielfalt Rechnung trägt", ließ sie aufhorchen und neue Zuversicht schöpfen.
Mit an der Spitze der Gegenbewegung ist die auf Umweltrecht spezialisierte Juristin Roda Verheyen. Sie kommt in einem von Greenpeace Deutschland in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten zu dem Schluss: Der Vertrag verstoße gegen internationales Klimarecht. Sie sagt gegenüber der DW: "Dieses Abkommen sollte überhaupt nicht mehr weiterverhandelt werden, weil es einfach kein modernes und nicht einmal rechtmäßiges Freihandelsabkommen darstellt, egal was da noch hinzugeschrieben wird. Das EU-Mercosur-Abkommen ist einfach alt und aus heutiger Sicht nicht geeignet, Klimaschutz und globale Politikansätze miteinander zu verbinden."
Das Argument der Umweltanwältin, die 2021 vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe schon mehr Klimaschutz in Deutschland erstritt: Durch die vermehrte Abholzung der Wälder und die damit ansteigenden Treibhausgasemissionen rückten die Klimaschutzziele von Paris in weite Ferne, die Erderwärmung auf maximal 2 und möglichst 1,5 Grad zu begrenzen. Verheyen fordert stattdessen, Freihandelsabkommen müssten sich in der heutigen Zeit vor allem auf den Transfer und das Teilen von Technologien beschränken.
"Wie zum Beispiel das Abkommen mit Neuseeland und auch kleinere Abkommen, in denen es um die Transformation in beide Richtungen geht. Unser Ziel kann bestimmt nicht sein, landwirtschaftliche Produkte aus dem Ausland billiger einzuführen. Und auf der anderen Seite Verbrenner-Motoren ins Ausland zu exportieren. Das ist einfach schädlich für alle."