Migration für die Kinder
4. März 2014In Italien hat es Denisa besser gefallen. Das sagt die 14-Jährige nur, wenn man sie direkt danach fragt. Ihre Familie stammt aus Rumänien, lebte aber einige Jahre in Parma, Denisa ging dort zur Schule. Alle seien freundlich gewesen, erzählt sie. In ihrer Schule in Dortmund, wo die Familie seit drei Jahren lebt, habe sie Probleme mit einigen Klassenkameraden, "die sagen, dass alle Rumänen Zigeuner sind".
Aus Rumänien war die Familie weggegangen, weil das Geld nicht reichte, berichtet Denisas Mutter Mihaela Gogan: "Mit dem niedrigen Lohn kann man seine Familie nicht gut über Wasser halten - ohne studiert zu haben sowieso nicht und selbst die Studierten gehen, weil sie auch nicht gut zurechtkommen." Die Familie zog erst nach Italien, weil die romanische Sprache die Verständigung erleichtert. Mihaela Gogan dekorierte Schaufenster, ihr Mann Radulescu arbeitete in einer Hundepension. Doch als die Wirtschaftskrise auch Italien erreichte, war die Arbeit weg. Sie beschlossen, in das EU-Land mit der stabilsten Wirtschaft zu ziehen: Deutschland. 2011 kamen sie in die nordrhein-westfälische Großstadt Dortmund, wo schon ein Schwager lebte.
"Wir sind nicht gekommen, um Sozialleistungen zu bekommen", sagt die Mutter, "sondern um uns zu integrieren und zu arbeiten für ein besseres Leben für unsere Kinder". Ihr Mann hat seit 2012 eine Reisegewerbekarte, mit "mobilem Schrotthandel" ernährt er die Familie. Als sie nach Deutschland kamen, hätte er in einer Backfabrik arbeiten können, erzählt er, doch als Rumäne brauchte er wegen der bis 2014 eingeschränkten Freizügigkeit eine Arbeitsgenehmigung. Die bekam er nicht. So verkaufte er zuerst in Münster ein Straßenmagazin von Wohnungs- und Arbeitslosen.
Mit Unwillen und Ablehnung konfrontiert
Bastian Pütter hat viele EU-Zuwanderer in Dortmund kennen gelernt: "Menschen, die alles mitbringen. Sie sind intelligent, freundlich und haben Familie. Sie sind nicht isoliert und nicht suchtkrank wie viele, mit denen wir sonst zu tun haben." Pütter ist Chefredakteur von "bodo", einem sozialen Straßenmagazin für Bochum, Dortmund und Umgebung, das ursprünglich vor allem von Menschen ohne Wohnung verkauft wurde. Heute gehören zu den Verkäufern auch EU-Zuwanderer. "Aus der Stadtgesellschaft schlug uns sehr viel Unwillen entgegen", sagt Pütter. Gemeinsam mit anderen gründete er den "Freundeskreis nEUbürger und Roma", eine Initiative, die Lobby sein will für Menschen, denen man mit massiver Ablehnung begegnet sei.
Mihaela Gogan erzählt, sie habe sich oft diskriminiert gefühlt. Viele hätten "die Augen verdreht", wenn sie ihren rumänischen Pass gezeigt habe. Die ersten Jahre in Deutschland waren schwierig, auch wegen bürokratischer Hürden. 2011 war sie schwanger mit Zwillingen, eines der Kinder starb in ihrem Bauch. Sie hatte eine Blutvergiftung, war lange im Krankenhaus. Ihre Tochter Sara überlebte als Frühgeburt. Weil sie keine Krankenversicherung nachweisen konnte, sollte Mihalea Gogan weit über 80.000 Euro bezahlen. Das Krankenhaus beauftragte ein Inkassobüro, um das Geld bei der Familie einzutreiben. Radulescu Gogan reiste nach Rumänien und ließ der Familie Europäische Krankenversicherungskarten ausstellen. Trotzdem kamen weiter Mahnungen.
Beim Kindergeld, das allen EU-Bürgern in Deutschland zusteht, war die Familie zunächst auch erfolglos. Die Behörden hätten immer neue Unterlagen gefordert, berichtet Mihaela. Sie ließ sich entmutigen. Erst 2013 reichte sie mit Hilfe einer Beratungsstelle einen Antrag ein. Während der Recherchen der DW in Dortmund wurde das Kindergeld nachträglich bewilligt, auch die Krankenhaus-Kosten wurden nach knapp zwei Jahren aus Rumänien ausgeglichen. Durch die Zinsen bleiben der Familie aber über 7000 Euro Schulden.
Debatte über möglichen "Sozialbetrug" ist "Ablenkungsmanöver"
Birgit Zoerner (SPD), Sozialdezernentin der Stadt Dortmund, fordert schon lange eine zentrale Stelle zur Klärung der Krankenversicherungsfragen. Die Folgen der EU-Zuwanderung beschäftigen sie seit Jahren, berichtet Zoerner. In die bevölkerungsreichste Stadt des Ruhrgebiets seien 2013 monatlich etwa 110 Menschen aus Rumänien und Bulgarien gezogen. Neben gut qualifizierten Menschen, die schnell Fuß fassten, kämen auch viele aus prekären Verhältnissen.
Nach Überzeugung von Birgit Zoerner müssen Städte wie Dortmund bei den Themen Arbeit, Gesundheit, Bildung und Wohnen das reparieren, was beim EU-Beitritt der Herkunftsländer versäumt worden sei. Die SPD-Politikerin initiierte und leitete beim Deutschen Städtetag die Arbeitsgruppe "Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien". Sie fordert dringend Hilfe von der Bundesregierung in Berlin für die Kosten der Integration wie medizinische Versorgung, Beratungsangebote oder Arbeitsmarktinitiativen.
CDU/CSU und SPD haben das Thema in den Koalitionsvertrag geschrieben: "Wir erkennen die Belastung der Kommunen bei der Bewältigung ihre Aufgaben an". Noch sei kein Geld aus Berlin geflossen, sagt Zoerner, sie hoffe, "dass das jetzt sehr schnell passiert, denn ewig warten können wir hier nicht mehr." Die lautstarke deutsche Debatte über möglichen "Sozialbetrug" der EU-Zuwanderer nennt Zoerner ein "Ablenkungsmanöver". Das sei "überhaupt nicht Kern des Problems".
"Ort, an dem Kinder groß werden sollen"
"Wir wollen keine Hilfe vom deutschen Staat, wir wollen akzeptiert werden. Ich will, dass meine Kinder so akzeptiert werden wie alle anderen Kinder auch", sagt Mihaela. Für sie selbst sei es schwierig, stellt sie fest, "aber meine Tochter geht hier zur Schule und hat sich integriert. Wir hoffen, dass es für sie besser wird." Diese Einstellung hat der Dortmunder Journalist Bastian Pütter bei vielen Zuwanderern beobachtet: "Das ist der Ort, an dem ihre Kinder groß werden sollen. Sie betrachten sich selbst als verlorene Generation. Ihre Kinder sollen die Sprache lernen, in die Schule gehen und Berufe erlernen."
Für niedrig qualifizierte Zuwanderer sei der Zugang zum Arbeitsmarkt schwierig, sagt Sozialdezernentin Zoerner. In Dortmund ist jeder Achte arbeitslos. Als mögliche Lösung denkt sie an öffentlich geförderte Beschäftigung. Bessere Perspektiven sieht sie für die nächste Generation, "wenn Kinder durchgängig hier in der Schule waren und dann unter ganz anderen Voraussetzungen ihre Ausbildungen beginnen. Deshalb wird sich das erst über Generationen verändern lassen. Das ist kein Thema, was man mit einem Fingerschnipp beheben könnte."
Trotz mancher Beschimpfungen - wenn Sport, Kunst oder Textilgestaltung auf dem Stundenplan stehen, geht Denisa gerne in die Schule und trauert Italien nicht mehr nach. Ihr Cousin Darius (6) hat keinen Vergleich. Er ist im Herbst in Dortmund eingeschult worden. Das Lernen mache ihm Spaß, erzählt er. Stolz zeigt der Erstklässler seinen Schulranzen und seine Hefte. Einen Berufswunsch hat er auch schon: Er möchte Polizist werden.