Brexit: Ein langes Drama
24. Juni 2016Seinen weichen Frotteebademantel hat sich Elliot Zelmanovits am frühen Morgen nach der Brexit-Entscheidung übergeworfen. Der Bademantel zeigt die britische Flagge, den Union-Jack, in knalligen Farben. Der junge Mann stellt sich vor den Haupteingang des Europäischen Parlaments in Brüssel, um gegen den Ausstieg der Briten zu demonstrieren.
Er bleibt alleine. Nur ein paar Passanten knipsen Elliot Zelmanovits, der immer wieder ruft: "Ich liebe die Briten, ich liebe Europa." Vor der britischen EU-Botschaft haben Unbekannte in der Nacht des Referendums Blumen abgelegt und aus Blüten das Wort "Remain" gebildet. Halb verwaschen vom Gewitterregen liegen sie am Morgen danach da.
Etwas zerknittert wirkt auch der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker, als er am Mittag vor die Presse tritt. Er hat wenig Schlaf bekommen und schon stundenlang mit EU-Politikern konferiert und telefoniert. "Ist das der Anfang vom Ende der EU?", wollte eine Korrespondentin von Kommissionschef Juncker wissen. Der murmelte nur ein kurzes "Nein" und eilte dann vom Podium im Pressesaal der Kommission.
Juncker schließt Rücktritt aus
Juncker hatte zuvor eine kurze Erklärung verlesen, in der er die Briten aufforderte, so schnell wie möglich Verhandlungen über einen Austritt aufzunehmen, "auch wenn es ein schmerzhafter Prozess wird." Den erahnten Schmerz, den die Verhandlungen über die Scheidung jetzt mit sich bringen werden, konnte man dem altgedienten Europapolitiker ein wenig ansehen. Mit entsprechender Miene sagte Juncker: "Das ist ein trauriger Tag". Persönliche Konsequenzen will er aber nicht ziehen. Er werde nicht zurücktreten, hatte sein Sprecher bereits am Mittwoch gesagt.
Ein Bild der Geschlossenheit gab Brüssel am Tag nach dem Referendum nicht unbedingt ab, sondern eher ein Bild der Ratlosigkeit. Sowohl Kommissionspräsident Juncker, als auch Ratspräsident Tusk und Parlamentspräsident Martin Schulz hielten sich an Artikel 50 des europäischen Grundlagenvertrages fest, der in wenigen Sätzen das Austrittsverfahren skizziert.
London muss weiter zahlen
Danach bleibt Großbritannien bis zum rechtlich wirksamen Austritt aus der EU Mitglied der Union, "mit allen Rechten und mit allen Pflichten", wie EU-Kommissionschef Juncker betonte. Die Briten müssen also weiter ihre Mitgliedsbeiträge entrichten, haben aber auch bis zur letzten Minute Stimmrecht. Den Vertrag zum Austritt müssen die übrigen 27 EU-Staaten und das Europäische Parlament billigen.
Unklar ist noch, ob während des Scheidungsverfahrens auch parallel über das neue Verhältnis von Briten und EU verhandelt werden kann, also über Freihandel und Reiseverkehr. Oder ob dies nur nacheinander geschehen kann, wie ein sachkundiger EU-Beamter meint. Das würde den Prozess noch weiter in die Länge ziehen und die Unsicherheit für Wirtschaft und Finanzmärkte steigern.
Erst wenn die britische Regierung die EU offiziell von der Absicht zum Verlassen der EU unterrichtet, beginnt die Frist von zwei Jahren, die für die Scheidung im EU-Vertrag vorgesehen ist. EU-Beamte versicherten, niemand könne die britische Regierung zwingen, diesen Schritt bald zu tun. Vielleicht startet das Verfahren also erst nach der Neubildung der Regierung in London im Oktober.
Mehr Fragen als Antworten
Eine so lange Zeit der Unsicherheit könne man sich nicht leisten, kritisiert der Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten im EU-Parlament, Manfred Weber. "Wir können ja nicht warten, bis die Tories (britische Konservative, Anm. d. Red.) ihren internen Streit beilegen und einen neuen Vorsitzenden und Premier bestimmen."
Eine Antwort auf das "politische Erdbeben" hat auch der österreichische Außenminister Sebastian Kurz bei einem außerordentlichen Treffen des Ministerrates in Luxemburg nicht zu bieten. Er wiederholte lediglich die Forderung, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne, zumal nicht in der Migrationsfrage.
Etwas konkretere Vorstellungen hat der Vorsitzende der Liberalen im EU-Parlament, Guy Verhofstadt. Der ehemalige belgische Ministerpräsident sagte der DW, "business as usual" und noch mehr Integration nach dem bisherigen Muster könne es nicht geben. "Mehr und mehr Europäer fühlen, dass die EU nicht in der Lage ist, die multiplen Krisen zu meistern, denen wir gegenüber stehen.
Verhofstadt will die EU von einem Staatenbund zu einem noch enger verzahnten Gebilde machen. Solche Reformvorhaben lehnen andere Europa-Politiker allerdings ab. Wer noch mehr Integration fordere, verkenne die Stimmung in Europa, meint etwa Manfred Weber von den Christdemokraten.
Da capo in Frankreich?
Die EU-Gegner sind an diesem Tag nicht im EU-Parlament. Sie triumphieren lieber zuhause. Die französische Europaabgeordnete und Chefin des rechtspopulistischen Front National, Marine Le Pen, sagte, sie wolle auch in Frankreich ein Referendum über einen "Frexit" erreichten. Ähnliches kündigte der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders für sein Heimatland an.
Der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, hält dagegen. Er habe mit allen 27 Staats- und Regierungschefs der EU in den letzten Tagen telefoniert, und alle seien sich einig, dass man jetzt zusammen stehen müsse, teilt er mit.
Als Antwort auf den britischen Austritt beginnt jetzt erst einmal ein Sitzungsmarathon. Am Samstag treffen sich die Außenminister der sieben Gründungsstaaten der EU in Berlin. Am Montag konferieren der französische Staatspräsident Francois Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel, der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi und der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk in unterschiedlichen Runden miteinander.
Am Dienstag und Mittwoch dann laufen die 28 Mitgliedsstaaten inklusive Großbritannien zum Gipfeltreffen in Brüssel auf. Vom britischen Premier David Cameron, der bereits seinen Rücktritt angekündigt hat, werden dann konkrete Aussagen erwartet, wie der Brexit vollzogen werden soll. Die grüne Fraktionschefin Rebecca Harms hat heute Probleme, die dramatischen Entwicklungen zu verdauen. "Mit ist einfach nur zum Heulen zu Mute", sagt sie der DW.