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Politik

EU: Rückenwind für Heiko Maas' Revolution

Tomasz Bielecki
9. Juni 2021

Aus dem Europaparlament erhält Bundesaußenminister Heiko Maas Unterstützung für seinen Vorstoß, das Einstimmigkeitsprinzip in der EU-Außenpolitik abzuschaffen. Experten sind dagegen eher skeptisch.

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Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) will sich nicht länger "in Geiselhaft nehmen lassen"Bild: DW

Brüssel hat sich in letzter Zeit zunehmend über Ungarn geärgert, das regelmäßig EU-Erklärungen zu Hongkong oder dem Nahen Osten blockiert. Solche Beschlüsse erfordern die Einstimmigkeit aller 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. "Wir können uns nicht länger in Geiselhaft nehmen lassen von denjenigen, die die europäische Außenpolitik durch ihre Vetos lähmen", so Bundesaußenminister Heiko Maas Anfang der Woche bei einer Botschafterkonferenz in Berlin im Hinblick auf die EU-Außenpolitik. "Das Veto muss weg", so Maas weiter, "auch wenn das bedeutet, dass man einmal selbst überstimmt werden kann".

Die EU hat keine gemeinsame Außenpolitik im engeren Sinne. Die EU-Institutionen versuchen lediglich, die Politik der 27 EU-Mitgliedsstaaten zu koordinieren. Deswegen fordern die EU-Verträge die Einhaltung des Einstimmigkeitsprinzips. Theoretisch kann es ohne Vertragsveränderung umgangen werden, indem man die sogenannte Passerelle-Klausel anwendet. In dem Fall können die EU-Mitglieder beschließen, eine Entscheidung, die einstimmig getroffen werden sollte, durch Mehrheitsbeschluss zu treffen. Das Problem dabei: Auch dieser Beschluss muss einstimmig gefasst werden.

Maas hatte in den vergangenen Jahren in Interviews bereits mehrfach für die Abschaffung des Vetos in der Außenpolitik plädiert. All diese Vorstöße erfreuten sich, genau wie der aktuelle, großer Beliebtheit im Europäischen Parlament, stießen aber in vielen Mitgliedsstaaten auf Widerstände. Und bei Experten auf Skepsis.

Iratxe Garcia Perez
Iratxe Garcia Perez, Vorsitzende der Mitte-Links-Fraktion S&D im EuropaparlamentBild: Hans Lucas/picture alliance

"Ich stimme Heiko Maas voll und ganz zu", sagt Iratxe Garcia Perez, Vorsitzende der Mitte-Links-Fraktion S&D, zu der auch die deutschen Sozialdemokraten gehören. Im Gespräch mit der DW erinnert sie daran, dass die S&D seit langem ein Ende des Prinzips der Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik fordere: "Einzelne Vetos verurteilen die EU zur Untätigkeit. Das müssen wir überwinden, wenn wir wollen, dass die EU ein echter Global Player mit einer starken und bedeutenden Stimme ist." Wenn 26 Mitgliedsstaaten eine gemeinsame Stimme finden können, um über China, Russland oder Israel zu sprechen, sei es inakzeptabel, dass die Regierung des 27. EU-Landes diese gemeinsame Linie untergräbt, argumentiert Garcia Perez.

"Einstimmigkeit untergräbt Effektivität und Glaubwürdigkeit der EU"

Auch Guy Verhofstadt von der liberalen Fraktion Renew Europe reagierte positiv auf Maas' Worte. "Richtig! Die Verhängung von EU-Sanktionen gegen Weißrussland zieht sich über Monate hin, Ungarn hält eine EU-Erklärung zu Hongkong zurück, Zypern legt sein Veto gegen die G7-Ambitionen der EU zur Unternehmensbesteuerung ein. Jeden Tag sehen wir ein weiteres Beispiel dafür, dass Einstimmigkeit die Effektivität und Glaubwürdigkeit der EU untergräbt", so Verhofstadt.

Guy Verhofstadt
Guy Verhofstadt von der liberalen Fraktion Renew Europe im EuropaparlamentBild: picture alliance/AP Photo/F. Seco

Manfred Weber (CSU), Fraktionschef der christdemokratischen Europäischen Volkspartei im Europaparlament, war bereits 2019 mit der Forderung nach einer Beendigung des Vetorechts in der EU-Außenpolitik in die Europawahl gezogen.

Noch zu früh?

Trotz solcher Stimmen aus dem Europaparlament ändert sich nicht viel auf Seiten der EU-Staaten - und ohne die kann Maas' Revolution nicht stattfinden. Für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips sei es noch zu früh, meint etwa ein westlicher Diplomat in Brüssel. "Kann sich jemand vorstellen, dass Griechenland in der Türkeipolitik überstimmt wird? Oder Polen in der Russlandpolitik?", fragt er rhetorisch.

Russland Putin und Lukaschenko in Sotschi
Weißrusslands Präsident Lukaschenko (l.) mit seinem russischen Pendant Putin in Sochi am 29.05.2021Bild: Sergei Ilyin/AP Photo/picture alliance

Offizielle Stellungnahmen zu Maas' Vorstoß werden frühestens beim nächsten EU-Außenministertreffen in Luxemburg (21.06.2021) erwartet. Als sich die Frage der Verlängerung der Sanktionen gegen Funktionäre des weißrussischen Regimes um Alexander Lukaschenko im vergangenen Jahr hinzog, weil Griechenland und Zypern sie mit EU-Beschlüssen gegen die Türkei verbanden, bestand der EU-Rat jedoch darauf, das Einstimmigkeitsprinzip einzuhalten - obwohl im Falle einer Sanktions-Verlängerung die Möglichkeit besteht, eine Mehrheitsentscheidung herbeizuführen. Sogar Polen und Litauen waren dagegen, die Konsensregel zu brechen, obwohl diese beiden Länder sonst sehr auf die Erweiterung der Belarus-Sanktionen drängen.

"Keine leere Debatte"

"Das ist keine leere Debatte, und Deutschland hat das Thema zu Recht wieder aufgegriffen", meint Georg Riekeles vom European Policy Centre in Brüssel. "Ich würde das nicht direkt mit dem deutschen Wahlkampf in Verbindung bringen. Die Welt kehrt zum harten Spiel, zur Geopolitik, zurück, und deshalb sollte die Union reifen, um effektiv zu spielen. Wenn sie in allem an der Einstimmigkeit festhält, wird sie es schwer haben".

Brüssel Europäische Kommission Berlaymont Gebäude
Der Sitz der EU-Kommission in BrüsselBild: viennaslide/imago images

Riekeles gesteht ein, dass die Änderung der EU-Verträge derzeit nicht auf der Tagesordnung steht und auch die Anwendung der Passerelle-Klausel im Moment nicht möglich erscheine. Er wünscht sich jedoch eine "möglichst ausführliche Diskussion". Er kann sich zwar keine Mehrheitsbeschlüsse zum Beispiel bei verteidigungspolitischen Themen vorstellen - aber möglicherweise bei Verhängung von Sanktionen oder bei den Menschenrechten. "Darüber hinaus sollten wir überlegen, wie wir mit Einwänden im Falle eines ungarischen Vetos gegen die Erklärung zu Hongkong umgehen. Eine Lösung für andere EU-Länder könnte darin bestehen, eine Erklärung von 26 Ländern ohne Ungarn in Betracht zu ziehen," meint Riekeles.

Ein Thema für die EU-Bürgerkonsultationen

Die Idee, von Vetos wegzukommen, wurde bereits von Jean-Claude Juncker, Chef der Europäischen Kommission von 2014 bis 2019, gefördert. "Souveränität dort zu teilen, wo sie gebraucht wird, macht jedes unserer Länder stärker", argumentierte Juncker in seiner Rede zur Lage der EU 2019 - und forderte die EU-Mitglieder auf, von der derzeitigen Einstimmigkeitsregel bei allen außenpolitischen Entscheidungen abzurücken.

Bundesaußenminister Maas hat vorgeschlagen, das Thema in die "Konferenz zur Zukunft Europas" aufzunehmen. Damit sind die laufenden EU-weiten Bürgerkonsultationen gemeint, die im kommenden Jahr mit einem Vorschlag für EU-Reformen abgeschlossen werden sollen.

"Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Frage der Lockerung des Einstimmigkeitsprinzips in der Außenpolitik im endgültigen Paket der EU-Reformvorschläge auftauchen wird. Aber ich gebe zu, dass ich keine ernsthafte Chance für die Umsetzung dieser Reform sehe," meint dazu Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre.