EU vor neuer Schuldenkrise?
7. November 2023Die Verschuldung der Staaten in der Eurozone stand 2022 laut der Statistikbehörde Eurostat bei einer Quote von 91,4 Prozent der Wirtschaftsleistung. Gegenüber 2021 war das ein Rückgang der Verschuldung um vier Prozentpunkte. Das ist sehr viel, aber laut Analyse der Europäischen Zentralbank (EZB) auf einen einmaligen Effekt wegen der Erholung der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie zurückzuführen.
Die EZB erwartet in ihrer jüngsten Prognose für dieses Jahr einen Schuldenstand von 89 Prozent. Im nächsten Jahr dürfte er noch leicht auf 88,6 Prozent sinken.
Insgesamt gilt: Der Schuldenstand liegt weit über der Höchstgrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die im sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU festgelegt ist. Vor allem für die Länder in der Eurozone, also den 20 EU-Mitgliedern, die den Euro als Gemeinschaftswährung haben, ist der Pakt wichtig. Schließlich soll er die Stabilität der Währung garantieren.
"Ein nie dagewesenes Schuldenniveau"
Seit vier Jahren, wegen der Corona-Pandemie und wegen der hohen Energiepreise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine, ist der Pakt mit seinen strikten Vorgaben ausgesetzt. Die EU-Kommission hat keine Verfahren wegen zu hoher Staatsschulden eingeleitet.
Elf Staaten der EU liegen über der 60-Prozent-Grenze. Am höchsten verschuldet sind Griechenland mit 171 Prozent des BIP und Italien mit 144 Prozent. Deutschland steht mit 66 Prozent noch ganz gut da. Im kommenden Jahr müssten die hochverschuldeten Staaten wieder ernsthaft daran gehen, ihre Schulden zu senken, empfiehlt das "European Fiscal Board", ein unabhängiges Beratungsgremium der EU-Kommission.
"Wir haben derzeit ein nie dagewesenes hohes Schuldenniveau. Die Höhe an sich mag man nicht als Problem sehen, aber die Aussicht, dass die Schulden ohne einschneidende Reformen in überschuldeten Ländern nicht sinken werden, bereitet uns Sorgen", meint Niels Thygesen. Der pensionierte Ökonomie-Professor aus Dänemark ist der Vorsitzende des fiskalischen Beratungsgremiums.
"Sie können nicht davon ausgehen, dass die Finanzmärkte es einfach so hinnehmen, dass Schulden dauerhaft über 100 Prozent liegen", sagt Niels Thygesen der DW. Die Refinanzierung von Schulden wird für die hochverschuldeten Länder durch die hohen Leitzinsen teurer. Der Abstand, der Spread, zwischen soliden deutschen und eher risikoreichen italienischen Staatsanleihen wächst. Die Ratingagentur Moody's hat Italiens Kreditwürdigkeit bereits herabgestuft.
Die Kosten für die Staatsschulden steigen rasant
Die hohen Zinsen, die die Kosten der Verschuldung antreiben, treffen die Finanzminister jetzt mit voller Wucht in ihren Haushalten. Bundesfinanzminister Christian Lindner teilte kürzlich mit, dass die Finanzierung des Schuldendienstes in diesem Jahr 40 Milliarden Euro verschlingen wird. Im Jahr zuvor waren es nur vier Milliarden Euro, es ist also eine Verzehnfachung.
Italien muss nach Angaben des Finanzministeriums in Rom für die Refinanzierung seiner Schulden im nächsten Jahr satte 100 Milliarden Euro hinblättern.
Der Ökonom Niels Thygesen dringt darauf, dass die Staaten jetzt einen langfristigen Plan zum Schuldenabbau festlegen, bevor das Problem, wie bei der Griechenland-Krise vor neun Jahren, außer Kontrolle gerät und zu Staatsbankrotten führt.
"Die Tatsache, dass wir jetzt höhere Zinsen haben als erwartet, sollte uns daran erinnern, dass das Problem wirklich ernst zu nehmen ist und die Unterschiede zwischen den verschuldeten Ländern immer größer werden, wenn man nichts unternimmt", so Thygesen im DW-Gespräch.
Die größten Probleme hat die rechtsradikale Regierung von Giorgia Meloni in Italien, aber sie ist nicht allein. Auch Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland und Zypern müssten ihre Haushalte konsolidieren, schreiben die haushaltspolitischen Berater des "European Fiscal Board" in ihrem Jahresbericht.
Wie das gehen soll, ohne die Konjunktur abzuwürgen oder martialische Sparprogramme aufzulegen, ist unter den Finanzministerinnen und -ministern der EU stark umstritten.
Wo ist der Plan zum Abbau der Schulden?
Trotz monatelanger Verhandlungen konnten sie sich auf kein Konzept einigen. Zwei Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Die eine Gruppe, angeführt von Deutschland, dringt auf klare Haushaltsvorgaben, die für alle Länder gelten sollen und zu einem zügigen Sinken der Schulden führen.
Die andere Gruppe, angeführt von Frankreich und Italien, setzt auf individuelle Schuldenabbau-Pfade, die die besonderen Umstände in Paris, Rom oder Athen berücksichtigen und nicht mit Strafen durchgesetzt werden sollten.
Der deutsche Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) rät zur Sanierung der öffentlichen Haushalte mit einem Schwerpunkt auf Investitionen in Modernisierung und Digitalisierung. "So machen wir das in Deutschland ja auch gerade. Wir haben eine moderat restriktive Fiskalpolitik. Die brauchen wir auch, um die Inflation zu bekämpfen, sonst würden wir die Maßnahmen der Notenbank ja konterkarieren", sagte Lindner der DW und hob auf die hohen Leitzinsen der Europäischen Zentralbank ab.
Hohe Staatsausgaben würden die Inflation, die gerade absinkt, wieder anheizen. Weniger Schulden und gleichzeitig mehr investieren, das könne gelingen, wenn man Prioritäten setze, meint der deutsche Finanzminister. "Das erfordert aber Mut, auch mal zu sagen, was nicht geht."
Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire sieht das anders. Er meint, sparen und zu schneller Schuldenabbau würde den Staaten die Luft zum Atmen abschnüren und Investitionen in die Zukunft verhindern.
Italiens Finanzminister Giancarlo Giorgetti und auch italienische Ökonomen vertreten die Auffassung, dass bestimmte Investitionen, etwa in grüne Energie oder Verteidigung, aus den Staatsschulden und der Schuldenquote herausgerechnet werden sollten. "Ausgaben, die mit europäischen Prioritäten verknüpft sind, dienen strategischen politischen Zielen und können bei fiskalischen Regeln nicht einfach außer Acht gelassen werden", forderte Giancarlo Giorgetti beim Treffen der EU-Finanzminister im Oktober.
Diese "goldene" Investitionsregel als Aufweichung des Stabilitätspaktes lehnt Deutschland strikt ab. Der italienische Finanzminister steht unter Druck, weil die Europäische Zentralbank ihre rettenden Käufe von italiensichen Staatsanleihen zurückfährt und 2026 kein Geld mehr aus dem Corona-Aufbauprogramm der EU nach Italien fließen wird.
Mehr Zeit für säumige Staaten?
Sollten sich die Finanzminister und die EU-Kommission bis Ende des Jahres nicht auf neue Schuldenregeln einigen, würde der alte Stabilitätspakt mit seinen strikten Grenzen für Neuverschuldung von drei Prozent des BIP und starren Vorgaben für einen schnellen Schuldenabbau wieder gelten.
Dann müsste die EU-Kommission wohl gegen Italien und Frankreich Verfahren einleiten, weil diese Länder 2024 laut ihren Etatentwürfen bei weit über vier Prozent Neuverschuldung liegen werden. Das will eigentlich niemand riskieren und auch Niels Thygesen vom "European Fiscal Board" sieht im alten Stabilitätspakt keine Lösung. Der habe zwar klare und harte Regeln, die aber in der Praxis nie wirklich durchgesetzt werden konnten, weil man die verschuldeten Staaten mit Strafen noch mehr in den fiskalischen Abgrund gestoßen hätte.
"Wir brauchen eine langfristige Strategie zum Schuldenabbau, nicht einjährige Vorgaben wie bisher, sondern einen Vierjahresplan zum Beispiel. Der sollte einen Pfad zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte beschreiben, der zumindest die Richtung hin zu einem Absinken der Schulden sehr wahrscheinlich macht", empfiehlt Wirtschaftswissenschaflter Thygesen, der schon Anfang der Neunziger Jahre an der Entwicklung der Gemeinschaftswährung Euro mitgearbeitet hat. Strikte jährliche Vorgaben seien nicht zielführend, sondern eher individuelle Zielmarken über einen längeren Zeitraum - und auch Geduld.
EU kämpft mit ihren ersten eigenen Schulden
Ein weiteres Haushaltproblem tut sich übrigens auf europäischer Ebene auf. Die EU hatte für ein Wiederaufbauprogramm nach der Corona-Krise erstmals gemeinschaftlich Schulden aufgenommen.
Die Finanzierung dieser Schulden von rund 400 Milliarden Euro, die als Kredite und Zuschüsse an die Mitgliedsländer - allen voran Italien - ausgereicht werden, wird durch die hohen Leitzinsen wesentlich teurer als ursprünglich kalkuliert. Der Etat der EU ist erheblich unter Druck, doch die Mitglieder weigern sich, die zusätzlichen Kosten zu übernehmen. Der nächste Verteilungskampf auf EU-Ebene steht ins Haus.