EU: Warnschuss für X, Meta und TikTok
16. Oktober 2023Am Anfang sah es fast aus wie eine persönliche Fehde zwischen zwei Männern. Auf der einen Seite: Thierry Breton, der EU-Kommissar zuständig für Binnenmarkt und Dienstleistungen, der sich gerne als "digitaler Vollstrecker" sieht. Auf der anderen: Elon Musk, Eigentümer der Online-Plattform X und selbsternannter Absolutist in Sachen Meinungsfreiheit. Die Bühne und gleichzeitig der Zankapfel: die Kommunikationsplattform X, früher bekannt als Twitter.
Nach dem Angriff der radikal-islamischen Hamas auf Israel schrieb Breton am Dienstag einen Brief an Musk, der ebenfalls auf X veröffentlicht wurde. Darin nahm Breton Bezug auf die Anzeichen dafür, dass der Dienst verwendet wird, um "rechtswidrige Inhalte und Desinformationen in der EU zu verbreiten". Er verwies auf "potenziell rechtswidrige Inhalte, die auf Ihrer Plattform trotz der Hinweise zuständiger Behörden kursieren", sowie auf "offensichtlich falsche oder irreführende Informationen". Musk antwortete auf X und forderte Breton auf, "die angeblichen Verstöße aufzulisten, damit die Öffentlichkeit sie sehen kann". Worauf Breton antwortete "Sie kennen die Berichte ihrer Benutzer – und der Behörden – zu Fake-Inhalten und der Verherrlichung von Gewalt nur zu gut."
Die Rolle sozialer Medien in internationalen Konflikten
Alessandro Accorsi von der Denkfabrik International Crisis Group in Brüssel hat sich auf die Nutzung sozialer Medien in Konflikten spezialisiert. Trotz positiver Aspekte sieht er zwei große Probleme: Werden die sozialen Medien mit Desinformationen überflutet, ist es für die Nutzer zum einen schwierig, herauszufinden, wie die Lage vor Ort tatsächlich ist. Zum anderen können sie die Debatte polarisieren.
Accorsi beobachtet die sozialen Medien in Bezug auf Israel und stellt gegenüber der DW fest: "Wir sehen jede Menge Falschinformationen, die die Debatte polarisieren sollen, um Unterstützung für die eine oder andere Seite werben und Hass und Gewalt schüren." So wurde zum Beispiel ein Video aus dem Bürgerkrieg in Syrien so geschnitten, dass es aussehen sollte wie ein Raketenangriff der Hamas auf Israel. Videos von Fallschirmspringern in Kairo, die zu Beginn dieses Jahres aufgenommen wurden, sollten angeblich Hamas-Kämpfer zeigen, die über Israel absprangen. Auf X wurde dieses Video über eine Million Mal geklickt.
Weitere Beispiele für Falschinformationen auf X zeigten ein Feuerwerk in Algerien, bei dem es sich angeblich um israelische Angriffe auf die Hamas handeln sollte, und Szenen aus dem Videospiel Arma 3, die einen weiteren Angriff der Hamas darstellen sollten. Einen Tag nach dem Terrorangriff empfahl Musk selbst seinen 150 Millionen Followern Accounts, die dafür bekannt sind, Falschinformationen zu verbreiten. Kurze Zeit später wurde der Post gelöscht.
EU-Regeln für soziale Medien
In seinem Brief an X bezieht sich EU-Kommissar Breton auf solches Material. So kritisiert er "die Nutzung alter Bilder aus nicht verwandten bewaffneten Konflikten oder angebliches militärisches Filmmaterial, das eigentlich aus Videospielen stammt". Breton verweist auf den Digital Services Act der EU, der Big-Tech-Unternehmen seit August verpflichtet, rechtwidrige Inhalte zu löschen, sobald sie von ihnen Kenntnis erhalten. Das Gesetz soll zudem sicherstellen, dass die Tech-Giganten Inhalte moderieren und Hass-Rede auf ihren Plattformen unterbinden.
X reagiert nach den Angriffen der Hamas auf Israel
Vergangenen Donnerstag beteuerte Linda Yaccarino, CEO von X, das Unternehmen habe seit dem Hamas-Angriff auf Israel "zehntausende Inhalte entfernt oder markiert" und "hunderte mit der Hamas in Verbindung stehende Accounts gelöscht". In ihrem Antwortschreiben betonte sie, während der aktuellen Krise würde X "als Fake und manipuliert erkannte Inhalte proportional und effektiv auswerten und entsprechend behandeln". Sie schrieb außerdem, X nähme Berichte zu potenziell rechtswidrigen Inhalten "überaus ernst" und sie bestärke die EU-Kommission, weitere Einzelheiten weiterzuleiten, um eine Untersuchung zu ermöglichen.
Die Antworten Yaccarinos mögen ausführlicher sein als die markigen Sätze von Musk, doch es fehlt ihnen noch immer an Details. Accori überzeugen sie nicht. Im Großen und Ganzen wiederholten sie nur die offizielle Position von X, ohne darauf einzugehen, wie die gesteckten Ziele erreicht werden sollen, meint Accori und weist darauf hin, dass X nicht preisgibt, welche Ressourcen es darauf verwendet, falsche Inhalte von seiner Plattform zu entfernen. Denn die Moderation von Inhalten sei sehr personalintensiv.
Yaccarino erläuterte einige Details der Funktion "Community Notes" des Dienstes. Diese soll Klarheit bezüglich irreführender oder falscher Beiträge, einschließlich bezahlter Werbung, schaffen und sie in den entsprechenden Kontext stellen. "In den ersten vier Tagen wurden entsprechende Hinweise viele Millionen Male aufgerufen", schrieb sie, und fügte hinzu, es seien mehr als 700 einzigartige Hinweise zum Konflikt zu den Beiträgen auf X hinzugefügt worden. Doch im Vergleich zu den Aufrufen irreführender Posts ist diese Zahl verschwindend gering.
Seit Musk die Plattform Twitter gekauft und umbenannt hat, ist der Dienst in die Kritik geraten, weil der Kampf gegen Desinformationen nachgelassen habe und die Moderation der Inhalte heruntergefahren wurde. Im Mai dieses Jahres zog sich der Dienst zudem aus einer freiwilligen Vereinbarung zur Bekämpfung von Desinformationen zurück.
Social-Media-Plattformen erhalten Post von der EU
Ähnliche Briefe gingen in den vergangenen Tagen an Meta und TikTok. In seinem Brief an Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram, forderte Breton die Plattform auf, die EU-Regeln sorgfältig zu befolgen, und warnte das Unternehmen, es müsse Deepfakes in Anbetracht der in Europa anstehenden Wahlen unterbinden. In seinem Brief an TikTok pochte der Kommissar darauf, dass TikTok verpflichtet sei, Kinder und Teenager angesichts der Terrorangriffe in Israel vor Gewaltdarstellungen zu schützen.
Beiden Plattformen wurde ebenso wie X 24 Stunden Zeit gegeben, auf die Briefe zu reagieren. Am Donnerstagabend gab die EU-Kommission bekannt, sie habe nach Prüfung der Antworten von X beschlossen, eine förmliche Untersuchung einzuleiten. Für X könnte das Geldbußen in Höhe von bis zu sechs Prozent des global erzielten Umsatzes bedeuten. Als letztes Mittel könnte die EU auch vor Gericht ziehen, um eine zeitlich befristete Aussetzung des Dienstes innerhalb der EU zu erwirken.
Bis zum 18. Oktober 2023 muss X laut einer Presseerklärung der EU-Kommission die Informationen zu Fragen im Zusammenhang mit der Aktivierung und Funktionsweise eines Krisenreaktionsprotokolls bereitstellen. Für die Antworten auf andere Fragen bleibt dem Unternehmen bis zum 31. Oktober 2023 Zeit. Die Kommission wird die Antworten dann auswerten und über ihre nächsten Schritte entscheiden.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.