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EU-Eisenbahnprojekt: Italiens Stuttgart 21

Sergio Matalucci
27. Juni 2021

Schon seit den 1990er-Jahren begehren die Menschen im Susa-Tal gegen eine geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke auf. Für Europa geht es dabei um eine Herzstück der zukünftigen Infrastruktur. Sergio Matalucci berichtet.

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Italien Baraccone | Baustelle | Lokale Projektgegner und Sicherheitsleute
Abgeschirmt an der Baustelle - Projektgegner und SicherheitsleuteBild: Sergio Matalucci/DW

"Wer ist denn da?", fragt eine Frau. Ihr Hund bellt, als ich durch die leergefegten Straßen der italienischen Alpendorfs San Didero gehe. Das liegt rund 30 Kilometer von der Grenze zwischen Italien und Frankreich entfernt.

Doch so friedlich es auf den ersten Blick erscheint, das Susa-Tal ist seit Langem das Schlachtfeld eines Konflikts zwischen der Regierung in Rom und einem Teil der lokalen Bevölkerung. Dabei geht es um ein großes europäisches Eisenbahnprojekt. Eine Hochgeschwindigkeitsstrecke auf insgesamt 270 Kilometer, die Turin mit Lyon verbinden soll. Das Herzstück der Verbindung ist der 58 Kilometer lange Mont-Cenis-Basistunnel durch die Alpen. Doch weil dieser tief in die Natur eingreift, lehnen viele Menschen im Susa-Tal das Projekt ab. 

Anfang der 1990er-Jahre hat man mit der Planung des Projekts begonnen. Die neue Reiseroute sollte die Achse Italien und Frankreich neu beleben, aber auch innereuropäische Zugfahrten zwischen Mailand, Venedig, Barcelona, Lissabon und Paris beschleunigen und den Güterverkehr in Europa vereinfachen.

Italien Chiomonte | Tunnelbaustelle
Spaltpilz - Teil der Hochgeschwindigkeitsstrecke durch die AlpenBild: Sergio Matalucci/DW

Doch seit der Planung wird vor allem durch die norditalienische ″No-TAV″-Bewegung erbittert gegen Bau der Strecke gekämpft. Viele Einheimischen fühlen sich und ihre Ängste nicht gehört. Die meisten Italiener hingegen sehen die rebellierenden Dörfler als Fortschrittsgegner. Was hier geschieht, ist das italienische Stuttgart 21.

Mangelnde Einbindung der Bevölkerung

Wirklich eingebunden war die lokale Bevölkerung von Anfang an nicht. Das hat bis heute tiefe Wunden hinterlassen. Es sei ein selbstbezogenes Projekt aus der Eisenbahn-Welt gewesen, "bei dem das Gebiet, auf dem es entstehen soll, nur eine Nebenrolle spielte″, erzählt Mario Virano der DW. Er ist Generaldirektor des Projektträgers TELT, der den grenzüberschreitenden Abschnitt der Eisenbahnstrecke plant.

"Das alles zusammengenommen hat den Eindruck vermittelt, dass die Arbeiten von oben sozusagen durchgedrückt wurden. Das hat dann zu diesem Konflikt geführt, der 2005 explodierte", sagt Virano. Damals kam es zu großen Demonstrationen, das Vorhaben und der Widerstand dagegen rückte damit auch stärker in den Fokus der Medien.

Im Jahr 2006 wurde das Projekt verändert, erklärt er. Lokale Institutionen machten Vorschläge. Die Eisenbahnroute wurde abgeändert und der Streckenverlauf nahm nun mehr Rücksicht auf die Umgebung. Rund 100 Millionen Euro wurden für die Verbesserung der Infrastruktur im Tal zur Verfügung gestellt. Das Gesamtvolumen des Bauvorhabens lag damals bei 12,5 Milliarden Euro.

"Die Analyse der Kosten und des Nutzens der Beteiligten sollte in die Bewertung von öffentlichen Arbeiten einfließen", sagt Francesca Pagliara, Expertin für Verkehrsplanung an der Universität Neapel Federico II. "Doch bis heute werden diese Perspektiven übersehen. Die EU sollte Richtlinien erarbeiten, damit die Kosten und Nutzen für die Beteiligten auch quantifiziert werden"・

Konkurrierende Narrative

Obwohl sie heute weniger lautstark sind als in den frühen 2000er-Jahren, protestieren die lokalen Gemeinden weiter. "Die Aktivisten sind die neuen Partisanen, die ihr Land schützen. Wir fühlen uns übergangen und das zu Recht", sagt Loredana Bellone, eine Lokalpolitikerin. "Als ich Bürgermeisterin von San Didero war, wurden Sicherheitskräfte eingesetzt, ohne mich zu benachrichtigen. Das Gleiche passiert jetzt. Sie greifen uns oft an und setzen Tränengas ein." Das Projekt spaltet Gemeinden und sogar Familien, sagt sie und verweist darauf, dass ihr Schwiegersohn bei der Polizei ist.

"Offizielle Prognosen gehen davon aus, dass die Nachfrage nach der Bahnlinie bis 2059 um das 20-Fache steigen wird. Das ist für mich völlig unrealistisch", sagt Paolo Beria, Verkehrsökonom an der Polytechnischen Universität Mailand.

Italien Chiomonte | Tunnelbaustelle
Die Evaluierung der Kosten und des Nutzes für die lokale Bevölkerung bleibt schwierigBild: Sergio Matalucci/DW

Laut Beria berücksichtigen die Prognosen nicht zeitgleich stattfindenden Verbesserungen bei anderen Strecken von Italien nach Mitteleuropa wie dem Brenner, dem Gotthardtunnel oder auf der Verbindung Nizza-Ventimiglia. "Sie alle werden mit Turin-Lyon konkurrieren", sagte Beria.

Doch Unternehmen und die Industrie behaupten, dass der bereits existierende Fréjus-Eisenbahntunnel - eine der wichtigsten Transitstrecken durch die Alpen ineffizient sei. Tatsächlich wurde die Eisenbahnverbindung bereits 1871 gebaut. Die Ökonomen argumentieren nun, dass es eine bessere Infrastruktur benötige, um Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und neue Geschäftsmodell zu ermöglichen.

"Auf Norditalien entfallen 70 Prozent der Exporte des Landes. Die Strecke Turin-Lyon ist Teil eines Prozesses der stärkeren internationalen Integration", sagt Giorgio Marsiaj, Präsident des Arbeitgeberverbandes von Turin. Italien müsse sich auf den Export konzentrieren, um wieder zu wachsen. Bisher habe man die Logistik vernachlässigt. "Das hat negative Auswirkungen auf Europa im Allgemeinen", so Marsiaj.

Dem stimmt auch Paolo Damilano, Mitte-Rechts-Kandidat für das Bürgermeisteramt in Turin, zu: "Eine stärkere Anbindung Turins an Europa wird der gesamten arbeitenden Bevölkerung, den jungen Menschen und den Unternehmern zugutekommen."

"Immer noch möglich, es zu stoppen"

Tiziana Beghin, Mitglied des Europäischen Parlaments für die italienische 5-Sterne-Bewegung, sieht ebenfalls die Notwendigkeit neuer Hochgeschwindigkeitsverbindungen, stellt aber den Nutzen dieses speziellen Projekts in Frage.

Italien Susatal | Vorhandene Infrastruktur
Die Menschen im Susa-Tal haben bereits einiges an transalpinem Verkehr vor der HaustürBild: Sergio Matalucci/DW

"Unsere Ablehnung liegt an praktischen, finanziellen und ökologischen Gründen", sagt Beghin. "Die laufenden Arbeiten sind bisher nur Vorbereitung. Es ist immer noch möglich, das Projekt zu stoppen und andere Lösungen zu suchen, unter Berücksichtigung echter Verkehrsdaten von Gütern auf der Strecke." Der Streit um den Streckenabschnitt wird also weitergehen.

Je länger der Streit, desto höher wohl auch die Kosten. Mittlerweile werden die Gesamtinvestitionen auf mindestens 26 Milliarden Euro datiert. Diese werden zu 40 Prozent von der EU geschultert. Wohl auch deshalb hat die EU-Kommission bereits mehrfach betont, bei weiteren Verzögerungen EU-Gelder wieder zurückzuziehen. Die Eröffnung der Neubaustrecke soll nun nach offiziellen Angaben 2032 erfolgen.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert