1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
GesellschaftDeutschland

Europas Rabbiner verlegen Hauptsitz nach Deutschland

10. Mai 2023

Rabbiner-Ausbildung, Bildungseinrichtungen, eine Akademie. Die Präsenz jüdischen Lebens im Land bekommt in München eine neue Dimension - und nicht nur dort.

https://p.dw.com/p/4RA96
Ein großer Mann, der eine hölzerne Tafel umfasst hält, steht zwischen einer Frau und einem Mann, der auf dem Kopf eine schwarze Kippa trägt. Im Hintergrund blickt eine Figur in historischem Gewand von einem Wandteppich herunter.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (Mi.) zwischen Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, und Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen OberrabbinerBild: Marc Müller/CER

Jetzt wird alles ganz schnell gehen. In den nächsten Tagen soll der Vertrag unterschrieben werden, dann stehen Renovierungsarbeiten an. Noch im Spätsommer soll der Hauptsitz der Europäischen Rabbiner-Konferenz (CER) in München eröffnet werden, in zentraler Lage zwischen Hauptbahnhof und Pinakothek.

Der 1956 gegründeten CER gehören rund tausend Rabbiner an - sie leben zwischen Dublin und Wladiwostok. Nach 67 Jahren verlagert die Vereinigung ihre Zentrale vom Gründungsort London nach München. Sie eröffnet hier ein "Zentrum für jüdisches Leben" mit zahlreichen Bildungsangeboten für Rabbiner und Raum für öffentliche Konferenzen.

Die Nachricht ist spektakulär und prägt an diesem Dienstag die feine Stube der Münchner Residenz, den Kaisersaal. Dort zeichnet die CER-Spitze den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) für herausragendes Engagement zum Schutz und zur Förderung jüdischen Lebens in Europa aus.

Die Stadt, in der Hitler aufstieg

Die Entscheidung ist der Höhepunkt einer Geschichte, die Ende Mai 2022 begann. Damals kamen etwa 500 CER-Rabbiner aus mehr als 40 Ländern erstmals zu ihrer Generalversammlung nach München. In jene Stadt, in der Adolf Hitler in den 1920er Jahren seinen politischen Aufstieg und den Kampf auf der Straße begann, jene Stadt, die von den Nazis später als "Hauptstadt der Bewegung" gefeiert wurde. Es ist auch die Stadt, in der bei den Olympischen Spielen 1972 palästinensische Terroristen elf israelische Sportler ermordeten. Die Umstände der Tat und deren Aufarbeitung sind immer noch eine offene Wunde.

Ministerpräsident Söder kam Ende Mai 2022 zur Generalversammlung der Rabbiner in einem von Polizisten sorgsam bewachten Hotel mit Kippa auf dem Kopf und einem kräftigen "Schalom" auf den Lippen. Da waren ihm Unsicherheit und Rührung anzumerken, aber auch Dankbarkeit und Freude über diese Zusammenkunft, zu der so viele Rabbiner wie nie zuvor nach der Shoa nach Deutschland gekommen waren. Er lud die Gäste ein, doch immer ihre Gesamttreffen - die bislang im Abstand von zwei bis drei Jahren durch europäische Städte touren - in München anzuberaumen. 

Blick von hinten auf Stuhlreihen mit Männern in dunklen Anzügen mit schwarzen Kopfbedeckungen, die im Freien einem Redner an einem Gedenkort zuhören, viele mit Kopfhörern
Juni 2022: Während ihrer Generalversammlung in München besuchten die Rabbiner die KZ-Gedenkstätte Dachau Bild: Christoph Strack/DW

Unter einigen Rabbinern kursierte da schon eine Weile der Gedanke, den Hauptsitz in die bayerische Landeshauptstadt zu verlegen. CER-Präsident Pinchas Goldschmidt sagt bei der Söder-Ehrung, als er von dieser Idee erstmals gehört habe, sei sie für ihn "echt meschugge" gewesen - verrückt. Er nennt München "die Stadt, in der die Reichspogromnacht geplant wurde", jene Tage um den 9. November 1938, in denen im Deutschen Reich hunderte jüdische Gotteshäuser geschändet und Dutzende Juden getötet wurden. Nun spricht Goldschmidt vom "Mut des Neuanfangs", nennt München "eine der größten und wichtigsten jüdischen Gemeinden in Deutschland". Goldschmidt verweist auch auf Charlotte Knobloch, die große Frau der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Er würdigt die 90-Jährige als "Legende des europäischen Judentums".

Erschütterung nach dem Attentat in Halle

Danach spricht Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sie berichtet von den Stunden nach dem rechtsterroristischen Attentat auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019, am jüdischen Feiertag Jom Kippur. Damals scheiterte ein Angreifer an der massiven Tür des vollbesetzten Gotteshauses, er erschoss zwei Menschen in der Nähe.

Knobloch erinnert an die Angst, die Erschütterung der Juden in Deutschland in diesen Stunden. Auch in der Münchner Synagoge. Wie Söder sie bald angerufen habe, wie er vorbeigekommen sei, jede finanzielle Hilfe für stärkeren Schutz zugesagt und versichert habe: "Ihre Sorgen sind auch unsere Sorgen." Immer mal wieder schaute er in der Synagoge vorbei. Knobloch nennt ihn einen "treuen Verbündeten für Bayerns jüdische Gemeinden", einen "Schutzpatron".

Blick in eine Straße, in der viele Menschen zusammengekommen sind und nachdenklich innehalten, rechts steht hinter einer Mauer ein Gebäude mit einem Turm
Nach dem Attentat in Halle kamen viele Menschen zur Synagoge (re.), um ihre Solidarität zu zeigenBild: Hendrik Schmidt/dpa/picture alliance

Jetzt also zieht es die Rabbinerkonferenz von London nach München. Rabbiner Goldschmidt nennt Sicherheit als erstes Wort auf die Frage nach den Gründen für die Verlagerung: "Sicherheit wird großgeschrieben." Er persönlich, so der Rabbiner, spüre in München Offenheit und Aufgeschlossenheit für jüdisches Leben.

Die Entscheidung für München fällt in einer Zeit, in der das jüdische Leben in Deutschland trotz vieler antisemitischer Zwischenfälle öffentlich präsenter und erkennbar vielfältiger wird. Mittlerweile werden in Deutschland liberale, konservative und orthodoxe Rabbiner ausgebildet und ordiniert, die in zahlreichen europäischen Ländern ihren Dienst antreten. Jüdische Stimmen sprechen mit in deutschen Debatten oder Feuilletons.

Zwei Männer in Anzügen halten lächelnd Spaten in den Händen, von einem fliegt Erde in die Luft
Grundsteinlegung für die "Jüdische Akademie" in Frankfurt mit dem damaligen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (re.) und dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef SchusterBild: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Und in mehreren Städten gibt es spektakuläre Bauvorhaben. In Berlin wird Ende Juni der für 40 Millionen Euro errichtete "Jüdische Campus" der Chabad-Gemeinschaft eröffnet, ein sieben Stockwerke hoher, attraktiver Bau, dessen Konzept sich bewusst an die Stadtgesellschaft und nicht nur an Mitglieder jüdischer Gemeinden richtet. In Frankfurt am Main schreitet unweit des Messegeländes der Bau der "Jüdischen Akademie" voran, der nach Angaben von Direktor Doron Kiesel Ende 2024 fertiggestellt und Anfang 2025 eröffnet werden soll.

Und Köln wartet schon seit Jahren auf die Fertigstellung des Jüdischen Museums in der Altstadt. Eine Reihe weiterer Bauprojekte steht an, so die Wiedererrichtung der im Krieg weithin zerstörten Synagoge Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg. Nun kann man die Europäische Rabbiner-Konferenz mit ihrem geplanten "Zentrum für jüdisches Leben", das europaweit ausstrahlen soll, dazu zählen.

Neue Dimension jüdischen Lebens

Mit Blick auf diese Projekte spricht der Berliner Historiker und Rabbiner Andreas Nachama von einer neuen Dimension jüdischen Lebens in der Bundesrepublik. "Vor 70 Jahren war die Zeit der Provisorien", sagt er der Deutschen Welle. Er nennt als Beispiel die Synagoge am Berliner Fraenkelufer, die im verbliebenen Seitenflügel des bei den Novemberpogromen 1938 und im Krieg schwer beschädigten einstigen Gotteshauses untergebracht ist. Der Rabbiner: "Jetzt ist es ganz anders." Jetzt würden Gebäude und Institutionen bewusst auf Dauer und repräsentativ errichtet. "Es ist nicht mehr auf Sand gebaut, es steht auf einem festen Fundament."

Blick auf einen gepflasterten Platz mit einigen Menschen, Bänken, Sonnenschirmen und Spielgeräten. Links ragt ein Gebäude mit weißer fensterloser Wand auf, im Hintergrund eine Mauer aus hellen sandfarbenen Steinen, dahinter ein hohes dunkles Gebäude vor strahlend blauem Himmel
Ein kleiner Spielplatz und Bänke vor der Ohel-Jakob-Synagoge in MünchenBild: olf/imagebroker/IMAGO

Auch die neue Präsenz der Europäischen Rabbinerkonferenz in München passt für ihn in die neue Phase. Sie stehe, sagt Nachama, für die erkennbare Vielfalt jüdischer Religion, Kultur und jüdischen Lebens. "Es gibt nicht eine Szene, sondern viele unterschiedliche jüdische Szenen." Gebäude seien dabei nur "das Äußere", ein Aspekt unter vielen. Wichtig seien die vielen jüdischen Szenen, die das Leben der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland trügen. Dazu zählten die Debatten einer Akademie oder rabbinischer Schulen. Aber mindestens so wichtig seien jüdisches Theater, jüdische Sportvereine oder Restaurants - Orte des Dialogs, die auch Kritik erlebten.

Welche Dimension das neue jüdische Zentrum in München haben wird, verdeutlichte Andrei Kovacs, der als Geschäftsführer den Verein "321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" koordiniert hatte. Er sprach von "einem großen Zeichen und einem historischen Moment für jüdisches Leben in Deutschland".

Angebote für die Frauen

Ein Akzent des Zentrums in München soll bei Bildungsangeboten für die Ehefrauen von Rabbinern liegen. Bereits im September 2022 hatte die CER ein Programm gestartet, das gezielt die Ehefrauen von Rabbinern und deren Beitrag für die Gemeinden in den Blick nimmt und sie für Leitung und Kommunikation qualifizieren will. Es gibt auch ein Nachdenken über die bislang fehlende Bezahlung der Frauen.

Blick in einen festlichen Saal mit Kronleuchtern und Wandteppichen. Menschen sitzen an festlich gedeckten Tischen und hören einem Mann am Rednerpult zu
Ministerpräsident Markus Söder verspricht den Jüdinnen und Juden in Bayern Schutz und UnterstützungBild: Marc Müller/CER

Markus Söder, der Geehrte, der "Schutzpatron", bekräftigt, jüdisches Leben solle sich in Bayern ohne Angst frei entfalten können. Frei, das bedeute nicht nur unter Polizeischutz.

"Wer jüdisches Leben und Freiheit bedroht, muss mit unserem konsequenten Widerstand rechnen - null Toleranz für Intoleranz", sagt der Ministerpräsident. Die europäischen Rabbiner bauen darauf.