"Schutzbedürftig ist immer die Minderheit"
17. September 2020DW: Dr. Fabritius, im Dialog zwischen Serbien und Kosovo geht es zentral auch um die jeweiligen ethnischen Minderheiten. Was gehört zu einer erfolgreichen Einigung über Minderheitenrechte?
Bernd Fabritius: Wir haben in Europa bereits rechtliche Grundlagen für den Minderheitenschutz, die gerade auch im serbisch-kosovarischen Dialog aus meiner Sicht wichtig sind. Und zwar sind es die beiden Regelwerke des Europarats, die Serbien bereits ratifiziert hat und auch umsetzt.
Das kann ich aus eigener Erfahrung mit der deutschen Minderheit in Serbien sagen. Das ist zum einen das Rahmenübereinkommen zum Schutz von nationalen Minderheiten, das Serbien im September 2001 ratifiziert hat und das die Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit sowie deren Assimilierung gegen ihren Willen verbietet. Es schützt also die Freiheitsrechte, die für die Angehörigen von Minderheiten von essentieller Bedeutung sind.
Das zweite Regelwerk des Europarats ist die Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Serbien hat diese 2006 ratifiziert.
Und diese Charta knüpft an das unveräußerliche Recht der Menschen an, sich im privaten und öffentlichen Leben der eigenen Regional- und Minderheitensprache zu bedienen. Serbien schützt die dort lebende deutsche Minderheit. Wir haben dort 4000 Menschen, die sich zur deutschen Minderheit zählen. Die meisten leben in der Vojvodina. Sie sprechen primär die Landessprache und sind patriotische Angehörige des serbischen Staates, sprechen aber die deutsche Sprache. Serbien kann also eine positiv gefasste Minderheitenpolitik umsetzen. Das erkennen wir an der Behandlung der deutschen Minderheit dort.
Misstrauen und Angst
Vieles klingt in der Theorie und in der Formulierung von Gesetzen oder Verabredungen sehr gut. Trotzdem gibt es ja häufig einen von Misstrauen und Angst geprägten Diskurs. Welche Mechanismen empfehlen Sie, um dann dem einmal theoretisch Verbürgten auch in der Praxis, in der Umsetzung zu folgen?
Angst innerhalb einer Gesellschaft ist ein Phänomen, das ich im Bereich der Minderheitenpolitik relativ häufig erlebe. Es ist eine wesentliche Aufgabe der Regierungen, durch Information, durch Aufklärung in der Gesellschaft für einen inklusiven Ansatz zu sorgen und klarzumachen, dass eine nationale Minderheit eine absolute Bereicherung einer Gesellschaft in einem Land ist.
Ethnisch-nationalistische Ausprägungen sind der Feind eines jeden Minderheiten-Schutzes. Es ist immer die Gratwanderung zwischen dem Druck zur Assimilierung und der Aufrechterhaltung der kulturellen Eigenheit der Minderheit. Man kann es vereinfacht sagen: Man kann ein guter Patriot sein, auch wenn man einer nationalen Minderheiten angehört. Ich habe gerade in der europäischen Minderheiten-Arbeit erlebt, dass nationale Minderheiten ganz besonders gute Patrioten sind. Und jede Regierung ist gut beraten, wenn sie dies als positiven Aspekt verwertet.
Sie haben über die Rechte von Minderheiten gesprochen. Wenn man auf den Konflikt zwischen Serbien und Kosovo blickt, hapert es aber auch an den Pflichten. Was empfehlen Sie, damit eine Minderheit sich auch positiv integriert?
Die erwähnte Angst innerhalb einer Gesellschaft als negativer Aspekt, als Feind aller guten Minderheitenpolitik, entsteht genau dann, wenn die Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft den Eindruck erweckt, dort eben nicht wirklich dazuzugehören und spalterische Ansätze zu verfolgen. Das ist einer positiven Minderheitenpolitik nicht zuträglich.
Eine Minderheit ist immer gut beraten, wenn sie die Dazugehörigkeit zu dem Gebiet, in dem Sie traditionell ansässig ist - und das macht es ja gerade aus, dass sie überhaupt als nationale Minderheit angesehen wird - konstruktiv begleitet.
Wenn also eine serbische Minderheit im Kosovo lebt, ist diese Minderheit sicher gut beraten, wenn sie sich als Teil des Kosovo sieht und dort mit der Mehrheitsgesellschaft vertrauensvoll zusammenlebt.
Und es ist gegenseitig die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der jeweilige Partner im selben Land nicht vor dem anderen Angst hat und ihn als einen Fremdkörper betrachtet. Das heißt, wenn die kosovarische Mehrheitsgesellschaft der dort lebenden serbischen Minderheit glaubhaft den Eindruck vermittelt, dass die Minderheitenrechte der Serben im Kosovo gewahrt bleiben, dass es nicht nur hingenommen wird, sondern vom kosovarischen Staat gefördert wird, wenn die Serben Serbisch als eigene Sprache pflegen, dann ist das Argument Angst nicht mehr da. Dann führt es nicht zu einer Entfremdung und Spaltung, sondern es führt zur verbesserten Integration dieser Minderheit, ohne von einer Assimilierung zu sprechen. Das ist umgekehrt genauso gültig.
Abbau gegenseitiger Vorbehalte
Sie haben das Stichwort Sprache genannt und dabei den Schutz der eigentlichen Muttersprache hervorgehoben. Es gibt aber auch Tendenzen, nicht nur im Kosovo, sondern auch in anderen umliegenden Regionen, dass ethnische Minderheiten die Mehrheitssprache nicht erlernen und diese ablehnen. Was empfehlen Sie dort?
Ich kann nur grundsätzlich empfehlen, und das gilt nicht nur für die Minderheiten, dass jeder die Landessprache, die Umgangssprache der anderen Menschen in dem Land, insbesondere, wenn es die Mehrheit ist, erlernen soll. Also jeder Angehörige der nationalen Minderheiten wird gut beraten sein, wenn er nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Kindern die Kenntnis der Landessprache als Zukunftsinvestition vermittelt; und wenn Vorbehalte gegen die Mehrheitsgesellschaft bestehen, dass diese, so gut es geht und so schnell wie möglich abgebaut werden, weil man ja letztlich in dem Land leben möchte. Das ist aus meiner Sicht Grundlage jeder klugen Positionierung einer ethnischen Minderheit. Alles andere würde ich hier unter dem Begriff Separatismus-Tendenz auffassen. Und das ist mit einer klugen Minderheitenposition nicht vereinbar.
Separatismus ist ja genau das, wovor dann wieder die Mehrheitsgesellschaft Angst hat. Wie kann es gelingen, dass im Spannungsfeld zwischen dem Gewähren der kulturellen Identität und dem Respekt gegenüber der Identität des Anderen Separatismus verhindert wird?
Ich denke, man muss, egal, ob man der Mehrheitsgesellschaft oder einer Minderheit angehört, selbstbewusst genug sein, den Anderen anders sein zu lassen.
Die Mehrheitsgesellschaft darf nicht den Eindruck erwecken, dass sie die Angehörigen der Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft zwangsassimilieren möchte. Und die Minderheit sollte der Mehrheitsgesellschaft den Eindruck vermitteln, dass man die Mehrheitsgesellschaft als solche auch stehen lässt. Schutzbedürftig ist immer die Minderheit, nicht die Mehrheit.
Wenn ich das jetzt auf Kosovo übertrage, dann sind doch nicht die Kosovaren schutzbedürftig dahingehend, dass sie Kosovarisch nicht pflegen können. Es ist doch ihr Land! Schutzbedürftig sind dort die Serben. Umgekehrt schutzbedürftig ist die kosovarische (albanische) Minderheit in Serbien. Dort ist sie Minderheit.
Minderheitenschutz setzt natürlich voraus, dass die Fragen der territorialen Zugehörigkeit geklärt sind und diese nicht angezweifelt wird! Ich bin nur dann eine Minderheit, wenn ich in einem anderen Staat lebe, wo es eine andere Mehrheitsgesellschaft gibt. Wenn ich das noch gar nicht akzeptiert habe, dann bin ich auch im Selbstverständnis noch keine nationale Minderheit.
Und deswegen funktioniert der Gedanke eines Minderheitenschutzes nur dann, wenn diejenigen, die diesen reklamieren, auch für sich annehmen, dass sie eine Minderheit sind. Wenn die territoriale Grenzziehung infrage gestellt wird, dann sind wir noch nicht bei der Debatte über Minderheitenschutz.
Inklusion und politische Teilhabe
Ein wichtiger Aspekt der Minderheitenrechte ist politische Teilhabe. Auf dem Balkan ist es so, dass die ethnischen Minderheiten ethnische Parteien wählen. Oft gibt es Quoren, die dann leichter Teilhabe ermöglichen. Gleichzeitig wird dadurch der politische Diskurs ethnisiert...
Ich halte die Notwendigkeit und Förderung der politischen Teilhabe der ethnischen Minderheiten für sehr wichtig, so dass die nationalen Minderheiten eine sogenannte positive Diskriminierung erfahren. Weil sie sonst die Möglichkeit der politischen Teilhabe gar nicht bekommen, weil die Mehrheitsgesellschaft sie sozusagen immer wieder an die Wand wählen kann…
In Rumänien ist ein Vertreter der ethnischen Minderheit Präsident, in Nordmazedonien soll am Ende der Legislaturperiode ein ethnischer Albaner Ministerpräsident werden. Resultate dieser positiven Diskriminierung?
Ich denke, es ist ganz ganz wichtig, dass man Minderheitenpolitik in der Gesamtgesellschaft als wichtig ansieht... durch ein inklusives "Jeden sein lassen, was er ist" ... Dann bekommt die ethnische Zugehörigkeit überhaupt keine Bedeutung mehr. Und dann kann selbstverständlich der Angehörige einer ethnischen Minderheit, wie zum Beispiel der Deutsche Klaus Johannis, von der rumänischen Mehrheitsgesellschaft mit einem überwältigenden Ergebnis zum Präsidenten alle Rumänen gewählt werden.
Und genauso wäre es, lassen Sie mich dieses Zukunftsmodell an die Wand malen, wenn es Kosovo gelänge, eine inklusive Minderheitenpolitik dergestalt zu etablieren, dass die Mehrheitsgesellschaft vor einem Angehörigen der serbischen Minderheit keine Angst mehr hat. Warum sollte dann nicht ein Angehöriger der serbischen Minderheit kosovarischer Präsident aller Kosovaren werden und umgekehrt ein ethnischer Albaner Präsident in Serbien?
Leider haben wir in Europa gerade einen gegenteiligen Trend: Der Nationalismus nimmt zu...
Minderheitenschutz ist gerade in einem Europa der Re-Nationalisierung gegenseitiger Beziehungen unglaublich wichtig. Ich denke, dass Minderheiten eine Chance für Frieden in Europa sind. Sie sind der Kitt für gegenseitiges Verständnis.
In diesem Sinne würde ich alle Staaten in Europa aufrufen, den Minderheitenschutz als Chance auch für das eigene gedeihliche Fortkommen zu betrachten.
Dr. Bernd Fabritius ist Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten
Das Gespräch führte Adelheid Feilcke, Leiterin DW-Europa