Faktencheck: Wer verhindert den Frieden in der Ukraine?
15. September 2024Über zwei Jahre Krieg in der Ukraine und kein Ende in Sicht. Viele fragen sich: Warum gab es immer noch keine Einigung in den Friedensverhandlungen? Beide Parteien schieben sich gegenseitig die Schuld zu.
Nun hat der von Bundeskanzler Olaf Scholz geäußerte Wunsch nach einem "zügigen" Frieden in der Ukraine die Diskussion darüber wiederbelebt, wie wahrscheinlich Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sind und woran sie bisher gescheitert sind.
DW-Faktencheck hat einige Behauptungen rund um die Friedensverhandlungen geprüft.
Ein nicht vorhandenes "Verhandlungsverbot" von Selenskyj
Russlands Präsident Wladimir Putin hat in den vergangenen zweieinhalb Jahren nach der Invasion in die Ukraine immer wieder seine Bereitschaft zu Friedensverhandlungen erklärt. Allerdings verbreitete er dabei auch das Narrativ, dass der ukrainische Präsident Selenskyj und "der Westen" solche Verhandlungen verhindern.
Behauptung: "Der Präsident der Ukraine hat ein Verbot von Verhandlungen mit Russland per Gesetz erlassen. Er hat ein Dekret unterzeichnet, das allen untersagt, mit Russland zu verhandeln", sagte Wladimir Putin am 6. Februar 2024 im Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson, dem die Verbreitung der Verschwörungstheorien und russischer Propaganda vorgeworfen wird. Diese Behauptung wird auch von anderen russischen Politikern wie Außenminister Sergej Lawrow und von Nutzenden auf sozialen Medien wiederholt verbreitet, wie z. B. hier auf X.
DW-Faktencheck: Falsch
Es gibt kein ukrainisches Gesetz, das der Ukraine oder anderen Ländern verbietet, Friedensverhandlungen mit Russland zu führen.
Bei seiner Behauptung bezieht sich Wladimir Putin offensichtlich auf das Dekret des Präsidenten der Ukraine Nr. 679/2022 vom 30. September 2022. Damit erklärte er den Beschluss des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats vom selbigen Tag für gültig. Dieser Beschluss beinhaltet folgenden Satz: "Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine hat beschlossen, die Unmöglichkeit festzustellen, Verhandlungen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation W. Putin zu führen". Dabei geht es also lediglich um eine Feststellung des Sachstandes und keineswegs um ein Verbot, mit Russland als Kriegspartei zu verhandeln.
Tatsächlich sprach sich Selenskyj in einem BBC-Interview vor kurzem dafür aus, dass die ganze Welt Druck auf Russland ausüben solle, um es an den Verhandlungstisch zu bringen. Nach dem Friedensgipfel in der Schweiz im Juni sagte der ukrainische Präsident, russische Vertreter sollten bei dem zweiten Gipfel im November dabei sein.
Will der Westen keinen Frieden?
Behauptung: "Der Westen hat kein Interesse daran, dass Friedensgespräche starten. (…) Weder die USA noch die NATO haben das geringste Interesse an der fairen Regulierung des aktuellen ukrainischen Konflikts", erklärt der russische Außenminister Lawrow.
DW-Faktencheck: Falsch
Der Westen nimmt bei dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gleich mehrere Rollen ein, erklärt Jonas J. Driedger vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF - Peace Research Institute Frankfurt) im Gespräch mit der DW. Der Westen sei zum einen ein Unterstützer der Ukraine und ein Sanktionierer Russlands, aber zum anderen auch Vermittler und potenzieller Sicherheitsgarant.
"Die Tatsache, dass das meiste, was an wirtschaftlicher Unterstützung, Waffenunterstützung und diplomatischer Unterstützung an die Ukraine geht, aus dem Westen kommt, wird aus russischer Perspektive dann so gedeutet: Wenn all das nicht passieren würde, dann hätten wir entweder die Ukraine bereits erobert und könnten einen Siegfrieden diktieren. Oder die ukrainische Führung wäre in so einer schwierigen Lage, dass sie im Grunde zu jeder Forderung der Russen 'ja' sagen müsste", sagt der Friedens- und Konfliktforscher. "Das aber als eine Entgegenstellung zu jedweder Form von Friedensabkommen darzustellen, ist analytisch und politisch falsch".
Dass der Westen bei den zukünftigen Friedensverhandlungen eingebunden wird, und zwar als ein potenzieller Sicherheitsgarant für die Ukraine, ist unvermeidbar. "Das ist ein Element, das Sie in ganz vielen Kriegen und Konflikten finden", erklärt Driedger.
Ein weiterer Aspekt im Bestreben des Westens, einen fairen Frieden im Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu erreichen. "Wir haben ein sehr schwach ausgeprägtes internationales Recht und das wird dadurch weiter ausgehöhlt, wenn man sagt, es ist in Ordnung, wenn starke Staaten zu Durchsetzung ihrer Interessen andere Staaten angreifen und auch aggressiv Land nehmen", erklärt Jonas J. Driedger.
Der erfahrene EU-Unterhändler und ehemaliger Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger betont im DW-Gespräch: "Wenn Sie zwischen zwei Parteien, die sich mit militärischen Mitteln bekriegen, vom Krieg zum Waffenstillstand oder zum Frieden kommen wollen, dann werden sie die Verhandlungen nur dann erfolgreich starten, durchführen und erfolgreich beenden können, wenn auf beiden Seiten die Entscheidungsträger zu der Einsicht gelangen, dass der weitere fortgesetzte Einsatz ihrer militärischen Mitteln nichts mehr bringt".
Vertane Chance auf Frieden in Istanbul?
Behauptung: "Der Westen forderte Selenskyj auf, den Friedensvertrag zu verwerfen", titelte das in der EU sanktionierte russische Medium RT seinen Artikel, in dem es über das aktuelle Interview von Victoria Nuland, der früheren Sprecherin des amerikanischen Außenministeriums, berichtet. Hier wird suggeriert, Nuland gebe zu, dass die Briten und Amerikaner im letzten Moment die Ukraine daran hinderten, das Friedensabkommen mit Russland im April 2022 in Istanbul zu unterzeichnen. Auch in den Sozialen Netzwerken wird diese Behauptung unter anderem auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch verbreitet.
DW-Faktencheck: Falsch
Das Narrativ über die angeblich von den Briten und Amerikanern torpedierten Verhandlungen in Istanbul ist nicht neu und wird vor allem von Russland seit den eigentlichen Verhandlungen in März-April 2022 aktiv verbreitet. So verband Putin den Besuch des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew im April 2022 mit dem vermeintlichen Versuch der westlichen Länder, die Verhandlungen zu stoppen, um stattdessen einen militärischen Sieg über Russland zu erlangen. Johnson selbst hat solche Vorwürfe dementiert.
Genau dieselben Vorwürfe kommentiert auch Victoria Nuland im Interview mit dem russischen Journalisten Michail Sygar, der im Exil in Berlin lebt. Dabei verweist sie darauf, dass die Amerikaner nicht bei den Verhandlungen anwesend waren und zuerst keine Details des Abkommens kannten. Erst gegen Ende der Gespräche hätten die Ukrainer um Beratung gebeten. "Uns wurde klar, dass die Hauptbedingung von Putin im Anhang des Dokuments 'versteckt' wurde, an dem sie arbeiteten. Es ging um die Beschränkungen konkreter Waffensysteme der Ukraine. Im Grunde genommen wäre die Ukraine mit der Unterzeichnung militärisch geschwächt worden", so Nuland.
Für Russland wurden hingegen keine ähnlichen Beschränkungen vorgesehen. Das hätte nicht einmal den Rückzug der Truppen anordnen oder eine Pufferzone einrichten müssen, berichtet die US-Diplomatin. "Deswegen haben die Menschen in und außerhalb der ukrainischen Delegation angefangen, zu hinterfragen, wie gut dieses Abkommen sei - das war der Moment, als es bröckelte".
Auch Konflikt- und Friedensforscher Jonas J. Driedger bestätigt, dass die Verhandlungen in Istanbul keine vertane Chance auf Frieden waren. "Wir haben mittlerweile genug Dokumente über diese Verhandlungen, um zu wissen, dass diese noch überhaupt nicht zeichnungsfähig waren. Ganz essenzielle Fragen, die für ein Abkommen unabdingbar gewesen wären, waren da gar nicht berührt, nämlich die Territorialfrage", erklärt Driedger.
Sowohl Nuland als auch Driedger weisen darauf hin, dass die Ukraine zum Zeitpunkt der Verhandlungen nach der erfolgreichen Verteidigung von Kiew nicht mehr in der Verliererposition war und sich somit nicht auf alle Bedingungen von Russland einlassen musste.
Warum verhandeln, wenn man den Sieg erhofft?
Eine Riesenblockade für die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sieht Jonas J. Driedger von PRIF darin, dass Russlands Forderungen mittlerweile sogar mehr geworden sind. So sollte die Ukraine aus russischer Sicht nicht nur auf den NATO-Beitritt verzichten, sondern auch die ukrainischen Truppen von den vier ukrainischen Gebieten zurückziehen, die noch nicht komplett von Russland erobert, aber bereits offiziell nach den illegalen Referenden annektiert wurden.
Wolfgang Ischinger warnt: "Wenn man in Moskau das Signal empfängt, wir hier im Westen, in Deutschland und bei den anderen Partnern sind inzwischen so kriegsmüde geworden, dass wir unsere Unterstützung für die Ukraine nicht fortsetzen wollen, dann wird man in Moskau zu dem Schluss kommen: Wir brauchen keine Verhandlungen, wir können unsere militärischen Ziele, nämlich die Unterwerfung der Ukraine oder zumindest die Konsolidierung des Ostens der Ukraine in die Russische Föderation hinein, auch ohne schwierige Verhandlungen einfach so durchsetzen".
Mitarbeit Roman Goncharenko