Festung Europa: Migrationspolitik in der Krise
27. August 2015Europa ist eine Festung und wo die Festung noch Lücken hat, da werden sie mehr oder weniger wirkungsvoll geschlossen. Das mögen Flüchtlingsorganisationen und viele gutmeinende Menschen in der EU kritisieren, doch die Innenminister der Union, die sich regelmäßig mit der illegalen Migration beschäftigen, sagen es längst, zumindest hinter vorgehaltener Hand: Die große Mehrheit der Bürger in den 28 Mitgliedsstaaten ist gegen eine noch größere Zahl von Migranten und Flüchtlingen.
Angesichts weiter steigender Zahlen von Migranten, die über das Meer nach Lampedusa wollen oder per Bahn nach Rosenheim kommen oder am Eurotunnel in Calais kampieren, könne er seinen Wählern nicht erklären, dass die EU es nicht schafft, illegale Einreisen zu verhindern, sagte einer der Minister, der nicht genannt werden will. Das fasst die Stimmung zusammen, ob sie nun zu den Fakten passt oder nicht. Deshalb bemühen sich die EU-Innenminister und mit ihnen die EU-Kommission eben nicht, die legale Einreise nach Europa zu erleichtern, sondern sie konzentrieren sich auf besseren Grenzschutz, Abwehr von illegalen Einreisen zu Wasser, zu Land, und vor allem auch an Flughäfen. Die Festung Europa wird ausgebaut, nicht geschleift. Und das schon seit fast 20 Jahren.
Festungsausbau geht voran
Nach dem Wegfall der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der meisten EU-Staaten wurden als logische Konsequenz die Außengrenzen nach und nach verstärkt. Das geschieht in manchen Fällen mit sichtbaren Grenzzäunen wie in Spanien, Griechenland, Bulgarien oder neuerdings Ungarn. Das geschieht aber vor allem durch eine gemeinsame elektronische Grenzüberwachung, Ein- und Ausreisekontrolle, Erfassung aller Reisenden mit Visa und der erkennungsdienstlichen Behandlung aller Asylbewerber. Die EU hat dazu in den vergangenen zehn Jahren zwei neue Behörden geschaffen, die Grenzschutzagentur Frontex in Warschau und die Asylbehörde EASO auf Malta.
In großen Datenbanken werden Ein- und Ausreisende, die Fingerabdrücke und biometrischen Daten von Visa-Inhabern und Asylbewerbern erfasst und mehr und mehr mit anderen Datenbanken zu Straftätern oder Terrorverdächtigen abgeglichen. Mehrfache Anträge auf Asyl, gefälschte Pässe oder Visa werden so leichter enttarnt. Grenzschützer werden europäisch geschult, bekommen Wärmebildkameras und Zugang zu Satellitenaufklärung. Auch das ist Teil der gewünschten Festungsmentalität.
Unruhe innerhalb der Burg
Noch sind die Systeme nicht voll funktionsfähig. Einige Staaten unterlaufen auch die angedachte Funktionsweise. Griechenland, Italien oder Ungarn sind beispielsweise nicht willens oder in der Lage, illegale Migranten zu erfassen und Asylbewerber ordentlich zu registrieren. Stattdessen reisen Migranten aus den südlichen Ankunftsländern nach Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Schweden weiter. Das führt innerhalb der Festung zu großer Unruhe, denn dadurch steigt die Zahl von Migranten und Flüchtlingen in Deutschland enorm an, wie der deutsche Innenminister Thomas de Maizière immer wieder beklagt.
Die Reaktion ist eindeutig: Viele Staaten, die inzwischen die Mehrzahl der Migranten aufnehmen, wollen die Regeln ändern. Statt bisher die Staaten dort in die Pflicht zu nehmen, wo die Menschen ankommen, soll ein Quoten- oder Verteilungssystem dafür sorgen, dass alle 28 EU-Staaten einen als gerechter empfundenen Anteil von wirtschaftlich motivierten Migranten oder Kriegsflüchtlingen aufnehmen. Das bisherige System, das den Namen der irischen Hauptstadt Dublin trägt, soll durch etwas Neues ersetzt werden. Die "Dublin-Regel" wurde vor 25 Jahren erfunden, um die Sicherung der Festung Europa an die Außengrenzen zu verlegen. Das Ganze geht auf das deutsche Konzept der "sicheren Drittstaaten" zurück, aus denen man keine Asylbewerber aufnehmen müsse.
Suche nach vorgelagerten Außenposten
Doch die Zahlen der Migranten am Mittelmeer sind inzwischen so hoch, dass das System zu kollabieren droht. Die EU hatte in den letzten 20 Jahren auch versucht, ihre Grenzsicherung Außenposten zuzuschieben, den sogenannten Transitstaaten. Mit Libyen gab es ein Abkommen, das die Fluchtroute aus Afrika aus Sicht der Europäer erfolgreich abschnitt. Seit der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi, der für seine Dienste kräftig kassiert hat, Geschichte ist, funktioniert das System nicht mehr. Es gelingt aber noch wie im Falle Marokkos, das dem früher stark belasteten Spanien die Flüchtlinge vom Hals hält.
Mit der Türkei, über die inzwischen die Hauptroute für die Migranten verläuft, wird seit Jahren verhandelt, bislang aber ohne durchschlagenden Erfolg. Deshalb haben Griechenland und Bulgarien Zäune gebaut, um die Grenze zur Türkei abzuriegeln. Der Effekt ist allerdings, dass die Migranten jetzt verstärkt versuchen, statt über Land über das Meer nach Griechenland zu gelangen. Viele besteigen auch in Istanbul ein Flugzeug Richtung EU.
Migrationsforscher und auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen warnen, dass sich durch Festungsbau die Migranten-Bewegungen nicht verringern, sondern nur umleiten lassen. Das hat auch die Europäische Union längst erkannt. In ihrer jährlichen "Risiko-Analyse" schreibt die Grenzschutzagentur Frontex selbst, dass die Zahl der Menschen, die in den kommenden Jahren nach Europa wollen und kommen werden, weiter zunehmen wird. Die Fluchtursachen, also zum Beispiel der Krieg in Syrien, die Diktatur in Eritrea oder die Armut in vielen Teilen Afrikas, die Perspektivlosigkeit im Kosovo, werden laut Frontex vorerst bestehen bleiben.
Diese Prognosen haben die EU-Innenminister immer wieder ignoriert. Sie haben sich auf Festungsaufbau konzentriert, sich aber nicht auf die Aufnahme von immer mehr Menschen vorbereitet. Anders sind die Zustände in Calais oder auf Kos oder auch die Zeltlager in deutschen Städten für Migranten nicht zu erklären. Es ist Zeit innerhalb der Festung, Vorsorge für mehr Ankommende zu treffen.
Zurück zu kleinen Festungen und Binnengrenzen?
Und die Zukunft? Einwanderungspolitik, Asylvergabe und die Aufnahme von Flüchtlingen bleibt weiterhin in der souveränen Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Jeder wird darauf achten, dass er möglichst wenige aufnehmen muss. Der Zwist der Staaten untereinander wird noch zunehmen. Die Migrations-feindlichen Töne in Dänemark, Großbritannien, Frankreich, Ungarn und anderswo werden schärfer, je größer der Druck ist. Die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland sind schlimm, aber in diesem Zusammenhang keine wirkliche Überraschung.
Die bedrohte Festung könnte nach innen mit Konflikten unter den Mitgliedsstaaten reagieren. Ansätze dazu gab und gibt es ja bereits. Dänemark hatte vor Jahren versucht, seine Landgrenze zu Deutschland wieder stärker und sichtbarer zu kontrollieren. Frankreich hatte zeitweise seine Grenze zu Italien an der Riviera geschlossen. Großbritannien wirft Frankreich vor, es würde den Zugang zum Euro-Tunnel in Calais nicht ausreichend schützen. Italien zeiht die osteuropäischen EU-Staaten öffentlich der mangelnden Solidarität, weil sie nur relativ wenige Migranten aufnehmen.
Wenn der Druck in Zukunft zunimmt, könnte es durchaus sein, dass die Staaten sich auch wieder auf ihre Souveränität an den Grenzen besinnen und ihre eigene kleine Festung schützen wollen. Die Reisefreiheit ohne Personenkontrollen in den Staaten der sogenannten Schengen-Zone könnte in Gefahr geraten. Wird die Migrationsfrage, abgesehen von allen sozialen Problemen, zum politischen Sprengsatz für die EU?