Krankheit, Tod und Kinderqualen
16. Mai 2011Der Gegensatz hätte wohl nicht größer sein können. Nach dem heiteren Auftakt mit Woody Allen ("Midnight in Paris") und dem Wirbel um den Kurzauftritt von Präsidentengattin Carla Bruni Sarkozy im Film des Amerikaners wurde die Stimmung ernst. Die Beiträge der ersten Tage wurden dominiert vom den Themen: Kindesmißbrauch und Prostitution, vernachlässigte Jugend, Krebs, Tod und Trauer. Die Reaktionen des überwiegenden Teiles der deutschen Presse waren dementsprechend zurückhaltend. Viele Filme wurden als respektabel angesehen, aber kein einziger riss die Journalisten von den Stühlen. Dafür war die Tonlage der meisten Filme wohl auch zu gedämpft.
Der Umgang mit dem Tod
In der Sektion "Un Certain Regard" rührte der deutsche Beitrag "Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen aber viele Zuschauer zu Tränen. Dresen erzählt die Geschichte eines etwa 40-jährigen Mannes, der von seinem Arzt eine niederschmetternde Diagnose erfährt: unheilbarer Hirntumor. Wie geht er damit um? Wie verhalten sich Ehefrau und Kinder? Diese schwierigen Fragen stellt Dresen im Film. "Geburt und Sterben gehören zu unserem Lebensweg dazu", sagte Dresen in Cannes, "wir neigen immer dazu, die Abgründe zu verdrängen. Ich finde das schade, denn das Kino ist ein Ort, wo man sich mit existenziellen Problemen unseres Lebens auseinandersetzen sollte."
Heftige Reaktionen löste der Film "Michael" von Regisseur Markus Schleinzer im Wettbewerb aus. Schleinzer schildert in seinem Debüt die Qualen eines Mißbrauchopfers. Im Keller eines Hauses wird ein zehnjähriger Junge von einem Pädophilen gefangen gehalten und misshandelt. Schleinzer orientierte sich unter anderem am Fall Natascha Kampusch, die 2006 in Österreich nach jahrelanger Qual durch einen Triebtäter fliehen konnte. Der junge Regisseur, der völlig überraschend zum Rennen um die Goldene Palme eingeladen wurde, legte mit "Michael" einen sehr unterkühlten Film vor, der sich vor allem mit dem Täter beschäftigt. "Soviel Kinderleid auf der Leinwand ist nicht leicht auszuhalten. Darf man das überhaupt, einen pädophilen Mann in den Mittelpunkt eines Films rücken und dessen Handlungen mit kühlem, detailversessenen Blick verzeichnen?" fragt irritiert die deutsche Zeitung "TAZ". Ähnlich dachten offenbar viele Zuschauer in Cannes, "Michael" erhielt neben einigem Beifall auch viele Buhrufe.
Glänzender Auftritt Tilda Swinton
Andere Wettbewerbsbeiträge boten kaum weniger leicht verdauliche Kost. Die Britin Lynne Ramsay konnte aber mit ihrem Film "We Need to Talk about Kevin" viele Kritiker überzeugen. Ramsay blickt in den düsteren Kosmos einer Kleinfamilie. Im Mittelpunkt: ein jugendlicher Amokläufer und das Verhältnis zu seinen Eltern, der Mutter vor allem, "Kunstvoll montiert, folgt der Film dem Lebensweg einer überforderten, aber stets wohlmeinenden Mutter. Tilda Swinton ist in dieser Rolle wieder preisverdächtig", urteilt die "Frankfurter Rundschau". Auch andere Zeitungen heben vor allem das intensive Spiel der Hauptdarstellerin hervor.
Recht angetan waren viele Beobachter auch vom Film der Französin Maïwenn Le Besco. "Polisse" zeigt eine Polizeieinheit zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt und Missbrauch von Kindern. Der Film kam besonders beim französischen Publikum gut an. Die "FAZ" bemängelt allerdings, als Zuschauer stochere man im Dunkeln, "wenn es darum geht zu ergründen, was in Kinder vorgeht und was sie aushalten können."
Für ein wenig Heiterkeit sorgten dagegen der italienische Regisseur Nanni Moretti und Frankreichs Altstar Michel Piccoli. "Habemus Papam" wagt sich an eine fiktive Papstfigur. Moretti, immer für deftige Kritik am offiziellen Italien und der Amtskirche in Rom gut, zeigt ein Kirchenoberhaupt, das alles sein will, nur nicht neuer Papst. Piccoli macht das nach Meinung aller Beobachter in Cannes brillant. Trotzdem enttäuschte der Filme viele: "'Habemus Papam' bleibt eine ziemlich milde Satire auf das Papstwahlspektakel, deren bösester Angriff auf die Würde der Kurie darin besteht, die versammelten Kardinäle im Hof der Sixtinischen Kapelle über ein Volleyballnetz baggern und pritschen zu lassen", spottet etwa "Die Welt".
Die zwei Gesichter des Festivals
Dass Cannes nicht nur aus Wettbewerb und Nebenreihen besteht, wurde indes am Wochenende deutlich. Den mit Abstand größten Wirbel verursachte die Weltpremiere des Hollywoodspektakels "Fluch der Karibik - Teil 4". Die Pressekonferenz mit Johnny Depp und Penélope Cruz war überlaufen, der Rote Teppich blitzlichterhellt, die Werbemaßnahmen der Produzenten und Verleiher gigantisch.
Hier zeigt sich das andere Gesicht des altehrwürdigen Festivals an der Croisette: Cannes wird von den mächtigen Hollywoodstudios immer wieder gern als Startrampe für große Blockbuster genutzt. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: "'Fluch der Karibik - Fremde Gezeiten' ist in 3D gedreht, der Effekt bringt ihn seinem Ursprung, einer Geisterbahn im Disney-Themenpark, wieder näher, und so hat Cannes damit auch gleich die obligatorische Verbeugung vor dem technischen Fortschritt erledigt."
Und so zeigen sich die Filmfestspiele auch in diesem Jahr von gewohnter Seite. Die großen Namen und hohen Erwartungen im Wettbewerb halten oft nicht das, was sie versprechen. Der Glamourfaktor mit Rotem Teppich dagegen weist einmal mehr darauf hin, dass man sich an der Côte d’Azur in zwei Parallelwelten befindet: einer künstlerischen mit Problemfilmen für ein im Kinoalltag meist kleineres Publikum und eine bombastisch aufgedonnerten Fantasy-Welt für ein globales Massenpublikum.
Autor: Jochen Kürten (mit dpa)
Redaktion: Conny Paul