Filmindustrie testet alternative Vertriebswege
9. Februar 2015
Bei der Berlinale geht es nicht nur darum, Schlange zu stehen, um Filme sehen zu können, nicht nur um silberne Bären und Premierenpartys und den roten Teppich. Es muss sich auch jemand darum kümmern, dass man auch Geld verdienen kann. Unweit des Potsdamer Platzes wird jedes Jahr die gedankenschwere Atmosphäre der Kunstgalerie von Berlins Martin-Gropius-Bau in einen gigantischen Marktplatz für Filmschaffende verwandelt. Regisseure verkaufen Filme an Produzenten, Produzenten verkaufen Filme an Vertreiber, Vertreiber verkaufen Filme an Kinoketten bzw. Fernsehsender. Dies ist der European Film Market. Hier versuchen Tausende, ihren Film unter den geschätzten 19.000, die jährlich weltweit gemacht werden, von der Konkurrenz abzuheben.
In diesem Rahmen veranstaltet der EFM jedes Jahr drei "Industry Debates" - ein Panel von erfolgreichen Geschäftsleuten diskutiert die aktuell größten Herausforderungen der Branche. Am Sonntag (08.02. 2015) wurde eine neue Entwicklung debattiert, die eine existenzielle Bedrohung für ein ganzes Glied der Filmproduktionskette sein kann: die traditionellen Filmvertreiber.
Unter dem Titel "Die Freuden und Herausforderungen der alternativen Distribution", diskutierte das sechsköpfige Panel Möglichkeiten, wie Filmemacher den Mittelsmann zwischen den Produzenten und Kinos umgehen könnten. Das bedeutet, Geld für die Verteilung bei Fans aufzutreiben, Vorführungen auf lokaler Ebene zu organisieren, oder sogar Filme direkt im Internet zu verbreiten - häufig über Video-on-Demand-Plattformen wie Viewster oder Netflix.
Der Direktvertrieb
Die Lösung soll Ketten sprengen. "Direct distribution" wie das im Industriejargon genannt wird, ist gegeben, wenn die Produktionsfirma die Kontrolle über das Schicksal des Films übernimmt. Statt einfach nur die Rechte an einem Film an einen Vertrieb zu verkaufen, behält die Produktionsfirma diese Rechte und engagiert Agenten, um unmittelbar ihre Zielgruppen zu erreichen.Diskussionsteilnehmer Olivier Kaempfer von den in Großbritannien ansässigen Parkville Pictures hatte eine schrille Metapher parat, um den Punkt zu beschreiben - er wurde zum ersten Mal von Ted Hope, dem unabhängigen US-Hersteller, der als Pionier der Direktverteilung gilt, zum Ausdruck gebracht: "Die Filmemacher haben bislang von anderen erwartet, ihre Kinder zu erziehen, und beschwerten sich dann, dass sie kriminell endeten und nicht spurten", sagte er dem Publikum, das hauptsächlich aus Filmproduzenten bestand. "Wir sollten aber endlich anfangen, unsere Kinder selbst zu erziehen - vielleicht sind sie dann am Ende etwas glücklicher."
Kaempfers Film "Borrowed Time" ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie die direkte Verbreitung funktionieren kann. Mit einem Mikro-Budget von 120.000 britischen Pfund (160.000 Euro) und einem kleinen Festival-Publikum, wurde der Film zunächst von den großen Distributoren gemieden. Als Reaktion darauf gingen Parkville Pictures zu Kickstarter, um 25.000 Pfund aufzutreiben, und wurden mit weiteren 25.000 Pfund vom British Film Institute belohnt in Anerkennung dieses innovativen Ansatzes.
Das Kickstarter-Verfahren war entscheidend - nicht nur, weil der Film so im Wesentlichen sein eigenes Publikum finden konnte: Normale Menschen, die den Film sehen wollten, und so direkt an der Finanzierung beteiligt waren. Aber er machte auch eine direkte Verbindung zwischen der geschäftliche Seite des Films und der Begeisterung für den Film selbst möglich. "Es schien wirklich aufregend, weil es genau das zeigte, was der Begriff des Direktvertriebs bedeutet. Es geht nicht nur um das Geschäft, was viele Leute abschreckt - 'Oh, ich mache Filme, ich bin kein Geschäftsmann '- es ist tatsächlich eine direkte Verbindung zu den Menschen, die den Film sehen wollen."
Neue Werkzeuge
Und es sind nicht nur die unabhängigen Produzenten, die den alternativen Vertrieb austesten. Ein anderer Diskussionsteilnehmer, Gareth Unwin von Bedlam Film Productions, war ein Oscar-Preisträger im Jahr 2011 mit "The King's Speech". Er hat auch beschlossen, etwas anderes für sein neuestes Feature zu probieren. Es handelt sich um "Kajaki", ein Kriegsdrama über eine Gruppe von britischen Soldaten in Afghanistan. Unwin wusste, es würde schwer sein, den Film zu verkaufen - er hatte einen unerprobten Regisseur und eine No-Star-Besetzung, also entwickelte er eine andere Strategie: "Die Idee war, es ohne eine Verkaufsstelle zu tun, ohne einen Vertrieb. Die Produktionsfirma würde selbst eine erhebliche Menge des Vertriebsbudgets auftreiben", sagte er.Das bedeutete, dass die Identifizierung des Publikums mit dem Film im Vordergrund stehen würde. Also ging Unwin zu den Wohltätigkeitsorganisationen der Armeeveteranen. Als Ausgleich für die Werbung für den Film bot er ihnen einen Prozentsatz der Bruttogewinne an. "Sie wurden von der Geschichte, die wir erzählen wollten, ermutigt, und sie erkannten, dass wir den Film mit Integrität verkaufen wollten", sagte er. "Ich konnte Ihnen in die Augen sehen und sagen: Für jedes Pfund, das durch die britischen Kinokassen geht, gibt es 10-pence für die Wohltätigkeitsorganisationen. Das bedeutete, die waren sofort mit an Bord. Und bis heute sind sie unsere größte Werbequelle."
Somit war Unwin in der Lage, Kinoketten in Großbritannien direkt anzugehen, um den Film zu verkaufen: "Das war für mich der Beweis, 'direct distribution' oder 'alternative distribution' sind keine schlimmen Begriffe. Es sicherte mir die direkte Kommunikation mit den Theatern."
Kenne Deinen Film!
Alle Teilnehmer waren sich einig: Der Schlüssel für eine erfolgreiche alternative Vertriebsstrategie ist es, den eigenen Film zu kennen und das Publikum dafür zu finden. Aber das ist eine Lektion, die Dokumentarfilmemacher längst gelernt haben. Dokumentarfilme haben ein neues Leben durch alternative Vertriebswege gewonnen - vor allem bei Video-on-Demand-Diensten. Die dänische Dokumentarfilmerin Sigrid Dyekjaer erklärte, dass die Industrie gezwungen ist, eine enge Beziehung zu ihrem Publikum aufzubauen wegen des niedrigen Budgets und der oft spezifischen Themen. Für sie ist der direkte Vertrieb schon längst Alltag.
"Es ist kein Hexenwerk", sagte sie. "Es geht wirklich nur darum, sich um den eigenen Film zu kümmern und die Verantwortung zu übernehmen. Ob Sie das über Kickstarter tun, ob Sie mit Amnesty International zusammenarbeiten - egal, es geht darum, Ihre Interessensgruppen zu kennen."
Neutral betrachtet bietet der alternative Vertrieb eine Chance, die Macht der traditionellen Filmforen zu brechen - Foren wie die Berlinale selbst. Dyekjaer schloss mit einem Wort der Ermutigung an das Publikum: "Vielleicht haben Sie keinen Film auf dem Festival. Aber es sind nicht nur Festivalfilme, die verkauft werden können. Ich denke, es kann diesen Hype auf der Berlinale geben - es ist ein sehr schönes Fest. Sie können Ihren Film aber im eigens abgesteckten Territorium zeigen, oder in der eigenen Stadt oder in drei Städten, die Sie sehr gut kennen. Sie können Ihren Film testen, um eine Bewegung loszutreten. Die Welt besteht schließlich nicht nur aus Festen und Festival-Vorführungen."