Gauck mahnt EU-Kompromisse an
26. Februar 2016"Flüchtlinge – eine Herausforderung für Europa" war die Diskussionsrunde überschrieben, zu der der Bundespräsident Wissenschaftler und Publizisten aus verschiedenen EU-Ländern in seinen Amtssitz, das Schloss Bellevue, eingeladen hatte. Es war die achte Debatte im Rahmen des "Bellevue Forums", das Joachim Gauck vor zwei Jahren ins Leben gerufen hatte, um gesellschaftlich wichtige Debatten anzuregen oder voranzutreiben. Das sei ihm noch nie so notwendig und wichtig erschienen wie jetzt, sagte Gauck zur Begrüßung. "Heute steht nicht nur ein diskussionsfreudiger, sondern auch ein beunruhigter Gastgeber vor Ihnen."
Da ist zum einen der europäische Zusammenhalt, um den der Präsident sich sorgt. Krisen hat Europa in den vergangenen Jahren viele erlebt: Die Staatsschulden- und Finanzkrise, drohende Austritte aus der Union, der gescheiterte Verfassungsvertrag. Derzeit werde die EU aber auf eine neue, besonders grundsätzliche Art auf die Probe gestellt. "Stärker noch als frühere Spannungen droht die Flüchtlingskrise das Grundgefüge Europas zu destabilisieren. Das ist nun wahrlich eine verstörende Entwicklung", so Gauck.
Auf das Warum kommt es an
Der Bundespräsident fordert einen intensiveren Dialog der Staaten über ihre Motive in der Flüchtlingskrise. Ihm komme es auf das "Warum" an, so Gauck. In den Zeitungen sei vor allem zu lesen, wohin die Meinungsverschiedenheiten geführt hätten: Deutschland sei enttäuscht von unzureichender oder fehlender Solidarität, andere Staaten verärgert über das, was sie als deutsche Politik des moralischen Imperativs empfinden.
Ideen für gemeinsame Positionen und denkbare Kompromisse seien hingegen Mangelware. "Die Flüchtlingskrise verlangt neue Diskussionen, neues Nachdenken, ein Nachdenken vor allem, das nicht allein im jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen stattfindet." Wenn Unverständnis oder Partikularinteressen die Krise nicht verlängern und vertiefen sollten, dann müssen die Europäer mehr voneinander wissen, mehr miteinander diskutieren und intensiver als bisher um einen neuen Konsens ringen, so das deutsche Staatsoberhaupt.
Erklärungsversuche
Ganz in diesem Sinn tauschten in einer anschließenden Diskussionsrunde Wissenschaftler und Publizisten aus Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Frankreich, Polen und Schweden ihre Argumente aus. Griechenland habe in der Krise keine Wahl, sagte Anna Diamantopoulou, Präsidentin des Think Tanks DIKTIO und ehemalige Ministerin und EU-Kommissarin. Allein im Januar und Februar dieses Jahres seien 100.000 neue Flüchtlinge auf den vorgelagerten Inseln angekommen, um die sich die Griechen kümmern müssten. 150 Tote und Vermisste seien in zwei Monaten schon wieder gezählt worden. "Die Lage verschlimmert sich täglich."
In Griechenland gebe es andere Ängste als in Deutschland oder Österreich, weil die Flüchtlinge nicht bleiben, sondern weiterreisen wollten. Es würden andere Fragen gestellt, beispielsweise, warum die Schlepperbanden immer die Sieger seien. Warum die Türken, die EU, Frontex, die UN, die NATO und auch die griechische Armee nichts gegen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausrichten könnten.
Auch die Grenzschließungen und die Diskussion über das Schengen-Abkommen machten den Griechen Angst. "Vor ein paar Monaten hatten wir die Diskussion über einen Grexit, jetzt ist es der drohende Ausschluss aus dem Schengen-Raum." Wenn es so weit komme, dann werde der ganze Balkan politisch instabil, warnt Diamantopoulou. "Dann ist der Frieden bedroht und die Region wird wieder häufiger auf den Titelseiten der Zeitungen sein."
Franzosen sind mit sich selbst beschäftigt
Während die Griechen keine Wahl haben, weil die Flüchtlinge jeden Tag zu Tausenden an ihren Stränden landen, schotten sich Großbritannien, Polen, aber auch Frankreich weiter ab. Die Franzosen seien nach zwei großen Terroranschlägen innerhalb eines Jahres sehr mit sich selbst beschäftigt, erklärte die Journalistin Sylvie Kauffmann in der Diskussionsrunde. Die Menschen würden derzeit in sich gehen und über das nachdenken, was in Frankreich schief gelaufen sei. Auch und vor allem in der Einwanderungspolitik. "Der Zulauf, den der Front National bekommt, scheint alle anderen politischen Parteien und auch die Regierung zu paralysieren."
Einen Blick auf die Seelenlage der Polen gab Jacek Kucharczyk, Vorsitzender des polnischen Institute of Public Affairs. Die Polen würden sich traditionell als tolerantes Volk sehen, sagte der Soziologe. Eine Mehrheit sei für Europa und sehe das eigene Land im Kern der EU. Die Forderung nach einer quotierten Verteilung der Flüchtlinge auf alle europäischen Staaten sei in Polen jedoch als Diktat empfunden worden und habe "schlechte Gefühle" ausgelöst.
Eigentlich gebe es in Polen in der Flüchtlingsfrage gleich viel ablehnende und unterstützende Bürger. Die Populisten unter den Politikern hätten den Streit in der EU jedoch zynisch ausgenutzt und aktuell würden sich zwei Drittel der Bürger gegen eine Quotierung aussprechen. Kucharczyk mahnte an, mehr auf die Ängste und Sorgen der Menschen einzugehen, aber auch nach gemeinsamen Wegen zu suchen.
Mahnung zu Kompromissen
Ähnlich sieht es Bundespräsident Joachim Gauck. "Es kann, nein es darf doch nicht sein, dass die Europäische Union sich selbst demontiert und das Einigungswerk von Jahrzehnten an der Flüchtlingsfrage zerbricht." In Deutschland sei man beunruhigt angesichts der Tatsache, dass einige Länder zum Schutz ihrer Interessen eine regionale Abgrenzungsstrategie beschlossen haben. Das könne man kritisieren oder ablehnen, es sei aber auch nicht undenkbar, dass sich europäische und regionale Lösungen ergänzen könnten, so Gauck. "Natürlich könnte es sein, dass dabei eine Kompromisslösung entsteht, die uns und manch anderen Europäern unbefriedigend erscheint, aber wir würden doch wenigstens beieinander bleiben."
Mit scharfen Worten ging der Bundespräsident auf die Angriffe gegen Flüchtlinge im sächsischen Clausnitz und die Brandstiftung in einem geplanten Flüchtlingsheim in Bautzen ein. "Isoliert die Hetzer, Gewalttäter und Brandstifter", forderte Gauck. Wer gegen eine vermeintliche Überfremdung protestiere, dürfe seine Unzufriedenheit und Wut nicht gegen jene richten, die viel schwächer und verletzlicher seien. "Wenn ihr protestieren wollt, dann achtet die Regeln! Werdet meinetwegen laut gegenüber Euren Bürgermeistern, Abgeordneten, Ministern, aber hört dann auch denen zu, was sie Euch zu sagen haben."