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Flüchtlinge: Keine Wahl, wir müssen weiter

Kürşat Akyol (Edirne)23. September 2015

Im türkischen Edirne an der Grenze zu Bulgarien und Griechenland warten syrische Flüchtlinge seit Tagen auf die Grenzöffnung. Sie sind bereit, ihr Leben zu riskieren, um in die EU zu gelangen. Kürşat Akyol aus Edirne.

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Flüchtlinge bei Edirne (Foto: REUTERS/Osman Orsal)
Bild: Reuters/O. Orsal

Die Frist, die der Gouverneur der westlichsten Stadt der Türkei gesetzt hatte, ist abgelaufen. Geschehen ist nichts. Der Gouverneur hatte verlangt, dass die Flüchtlinge die Stadt Edirne verlassen. Busse sollten sie in andere türkische Orte bringen. Doch die Busse stehen leer am Straßenrand - die syrischen Flüchtlinge wollen nicht gehen.

Sie hoffen weiter auf eine Grenzöffnung, damit sie endlich nach Europa gelangen. Am liebsten wollen sie nach Deutschland, aber auch andere europäische Staaten kommen für sie infrage. Seit ungefähr einer Woche warten sie hier und weigern sich, diesen Ort zu verlassen. "Es ist nicht mehr möglich zurückzugehen!", sagen sie alle. Hunderte oder sogar Tausende Kilometer haben sie hinter sich gebracht, um nach Edirne zu kommen, an die Grenze zur Europäischen Union. Poyrazköy an der türkisch-griechischen Grenze ist nur acht Kilometer entfernt.

Flüchtlinge bei Edirne (Foto: Xinhua/Cihan XINHUA /LANDOV)
Flüchtlinge in Edirne - alle wollen weiter nach Europa, viele nach DeutschlandBild: picture alliance/landov/Xinhua

Muhammed Muhsin ist 25 Jahre alt. Um hierher zu kommen, musste er viele Hürden überwinden, berichtet er: “Wir sind erst nach Havsa gereist, 50 bis 60 Kilometer von hier entfernt. Wir waren etwa 150 Menschen, darunter mehr als 90 Frauen und Kinder. Tagsüber haben wir uns versteckt. Nachts sind wir durch die Felder und über die Berge gelaufen.” Muhammed war Politikstudent in Damaskus, als er vor einem Jahr in die Türkei floh. In Antalya schlug er sich als Bauarbeiter durch, bekam pro Tag 30 türkische Lira (rund 10 Euro). Seit einer Woche ist er nun hier in Edirne.

Am Stadion und auf der Wiese drumherum halten sich derzeit rund 1400 Menschen auf. Viele sind aus Istanbul gekommen. Als Transportmittel nutzten sie alles, was sie finden konnten: Busse, LKWs - einige kamen per Anhalter und manche wie Muhammed zu Fuß. In Edirne, einer Stadt mit 140.000 Einwohnern, sind sie nah an den Grenzen zu Griechenland und Bulgarien. Es gibt in der Gegend fünf Grenzübergänge.

Die Stadtverwaltung von Edirne hat alle Flüchtlinge im Stadion zusammengeführt. In Durchsagen auf Arabisch werden die Flüchtlinge darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich innerhalb der Türkei frei bewegen können. Die Busse in Stadionnähe sollen sie in andere Städte bringen. An den Busfenstern hängen Schilder auf Türkisch und Arabisch mit Städtenamen: Istanbul, Bursa, Izmir, Ankara, Gaziantep und Urfa sind im Angebot.

Flüchtlinge am Stadion in Edirne (Foto: Kürsat Akyol)
Am Stadion von Edirne warten die Flüchtlinge auf die GrenzöffnungBild: Kürsat Akyol

"Wir haben kein normales Leben"

Auch Dutzende Polizisten warten hier, sie wirken distanziert. Vor der Essensausgabe sorgen sie dafür, dass Ordnung herrscht in den getrennten Warteschlagen für Frauen und Männer. Es wird nicht gelacht und nicht geschrien, Körperkontakt gibt es kaum.

Vergangenen Sonntag hatte die türkische Regierung einige Vertreter der Flüchtlinge nach Ankara eingeladen. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte, es sei nicht möglich, sie die Grenze überqueren zu lassen, solange die Nachbarstaaten dies nicht wollten. Er bat die Flüchtlinge, ins "normale Leben zurückzukehren".

Darüber können die Menschen in Erdine nur müde lächeln: "Wir haben kein normales Leben", sagt die 27-jährige Mutter Emine Muhammed. Ihre Kinder sind acht, vier und drei Jahre alt. Zusammen mit ihrem Mann flohen die fünf aus Aleppo, zuerst nach Adana, jetzt sind sie in Edirne angekommen.

"Wir sind vor dem Krieg geflohen, vor den Waffen, Bomben, vor Assads Regime, vor oppositionellen Kräften, dem IS", betont Emine. "Wir sind nicht aus einem normalen Leben gekommen", fügt sie hinzu. Rückkehr ist für sie keine Option: "Wir werden in irgendein europäisches Land gehen. Wir müssen es unbedingt schaffen! Das ist die einzige Möglichkeit für eine neue Zukunft. Wenn es nötig wird, werden wir übers Meer gehen."

2700 Tote in acht Monaten

Solche Aussagen hört man hier sehr oft. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in den vergangenen acht Monaten in den Gewässern der Ägäis über 2700 Flüchtlinge ertrunken. Vor einigen Tagen sank ein Flüchtlingsboot vor der türkischen Küste. Mindestens 13 Menschen sind dabei ertrunken, vier gelten noch als vermisst.

Emine zeigt auf ein Mädchen, das ein Bild hochhebt: Es ist das Foto, das durch alle Medien ging: Aylan Kurdi, der dreijährige Junge, der ertrunken an der türkischen Küste liegt. Emine sagt: "Es besteht Todesgefahr." Hat sie Angst um ihre Kinder? Traurig antwortet sie: "Natürlich habe ich Angst. Sie sollten uns nicht dazu zwingen, über das Meer zu fahren. Aber wenn sie nichts Anderes zulassen, muss ich das Leben meiner Kinder riskieren. Wir haben keine andere Wahl."

Bei einem Besuch im Stadion rief Gouverneur Dursun Ali Sahin die Flüchtlinge auf, nach Hause zu gehen. Er betonte, es sei nicht möglich, die Grenzen zu öffnen, solange Griechenland, Bulgarien oder andere europäische Länder das nicht erlaubten.

Die Menschen in Edirne aber wollen das nicht hinnehmen. Sie haben einen Sitzstreik vor dem Stadion organisiert. "Wir gehen nirgendwohin", sagen sie. Die Kinder tragen Protestplakate, darauf steht: "Öffnet die Grenze" und "Ich will nach Europa, damit ich meine Zukunft sehen kann." Ein Plakat ist auf Deutsch verfasst: "Liebe Deutsche Volk, bitte Hilfe. Wir sind Brüder in Menschheit." Ein siebenjähriges Mädchen trägt ein Transparent, das auch viele andere haben: "Wir wollen nicht auf dem Meer sterben, wir sind alle Aylan."

Flüchtlinge in Edirne ((Foto: Kürsat Akyol)
Demonstration der Flüchtlinge - sie wollen weiterBild: Kürsat Akyol

Auch Iraker sind unter den Flüchtlingen. Der Jeside Napulion Kalaf ist mit seiner Frau, seinen drei Töchtern und einem Sohn gekommen, zusammen mit drei anderen jesidischen Familien. Kalaf glaubt, dass das Problem nicht in Europa, sondern in der Türkei liegt. "Es reicht, die Grenze zu öffnen!", sagt er.

"Europäer sind gerecht"

Muhammed Muhsin, der Student aus Damaskus, verlangt nicht einmal das. Er will nur noch bis zur griechischen Grenze gehen und dort ein Lager errichten. "Wir werden von dort aus die europäischen Völker rufen, nicht die Staaten. Denn die Europäer sind menschlich, gerecht. Sie werden es nicht zulassen, dass wir auf dem Meer sterben." Auch der 49jährige Ingenieur Ahmad Omar hat Vertrauen zu den europäischen Völkern: "Wenn wir alleine gehen, würden sie uns nicht aufnehmen. Aber wenn wir es zusammen versuchen, werden sie das tun", hofft er.

Mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge leben mittlerweile in der Türkei. Nach offiziellen Angaben gab der Staat bisher 7,6 Milliarden Dollar (umgerechnet etwa 6,8 Milliarden Euro) für Flüchtlinge aus. Allerdings genießen sie in der Türkei nur einen vorübergehenden Gaststatus. Daher haben sie keinen Anspruch darauf, einen Antrag auf den UN-Flüchtlingsstatus zu stellen.

Jesidische Flüchtlinge in Edirne (Foto: Kürsat Akyol)
Unter den Flüchtlingen im türkischen Edirne sind auch Jesiden aus dem IrakBild: Kürsat Akyol

Flüchtlinge haben keine Arbeitserlaubnis und Probleme bei der Suche nach einer Unterkunft, bei der gesundheitlichen Versorgung und bei der Bildung der Kinder. Dazu kommen rassistische Attacken, denen sie immer wieder ausgesetzt sind.

Tausende Kinder und Frauen werden in die Kriminalität gedrängt, sagen Beobachter. Doch Stehlen und Betteln seien noch nicht die schlimmsten Perspektiven: Mädchen und junge Frauen würden immer wieder zu Kinderehen oder zur Prostitution gezwungen. Unter diesen Umständen wolle natürlich kein Flüchtling aus Syrien in der Türkei bleiben, sagt Ilyas Erdem, Vorsitzender des Vereins "Solidarität für Flüchtlinge" aus Istanbul: "Im gesetzlichen Sinne existieren sie in der Türkei gar nicht!"