Der Blick geht nach Ankara
16. November 2015Die afrikanischen Regierungschefs waren kaum aus Malta abgereist, da beugten sich die Chefs der EU gleich über ihr nächstes Projekt zur Verringerung der Flüchtlingsströme nach Europa: Die innerhalb weniger Wochen aus der Taufe gehobene enge Zusammenarbeit mit der Türkei. Sie ist wichtigstes Transitland für die Mehrheit der in Europa eintreffenden Menschen. EU-Kommissionvize Frans Timmermans hatte gerade zwei Tage in Ankara verbracht und die Vorverhandlungen so weit vorangetrieben, dass ein Gipfeltreffen zur Verkündung des Aktionsplans EU - Türkei nun sofort auf die Agenda gesetzt wird.
Schengen in Gefahr
EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte zu Beginn dieses informellen Treffens noch gewarnt, wenn es so weitergehe mit unkoordinierten Grenzschließungen in einzelnen EU-Mitgliedsländern, dann verliere man das Rennen mit der Zeit bei der Bewahrung des Schengenraumes. Das war gemünzt auf Schweden, dessen Regierung schlagartig die Notbremse gezogen hatte und Flüchtlinge ohne Aufenthaltspapiere nicht mehr auf die Fähren ließ. Die Regierung in Stockholm machte eine Krisensituation geltend, man wisse nicht mehr wohin mit den vielen Neuankömmlingen. Klar ist: dahinter steht auch eine politische Botschaft. Das gleiche gilt für Slowenien, wo man begonnen hat, Stacheldraht an der Grenze zu Kroatien auszurollen.
Alle beim Gipfel hätten den Wert des freien Reiseverkehrs im Schengenraum sehr betont, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu. Aber nötig sei jetzt schnell ein besserer Schutz der Außengrenzen, und gerade dazu dienten ja die Verhandlungen mit der Türkei. Von ihr erhofft sich die EU, dass sie den Schleppern an der Küste gegenüber den griechischen Inseln das Handwerk legt und die illegalen Einreisen von dort beendet. Sie sehe es positiv, dass da etwas in Gang gekommen sei, erklärte die Bundeskanzlerin. Außerdem scheint das Problem den Mitgliedsländern inzwischen genug unter den Nägeln zu brennen, sodass sie jetzt auch die fehlenden Grenzbeamten für den erweiterten Frontex-Einsatz bereit stellen.
Gegengeschäfte mit der Türkei
Ähnlich wie der neue Aktionsplan mit Afrika basiert auch der mit der Türkei auf dem Prinzip der Gegengeschäfte. "Das ist ein Zug-um Zug-Programm", erläuterte Angela Merkel den Plan. So soll etwa die von der EU in Aussicht gestellte schnellere Visa-Liberalisierung - sie ist für das kommende Frühjahr vorgesehen - direkt an die Unterzeichnung eines Rückübernahmeabkommens für Drittstaaten gebunden werden. Das heißt, syrische Flüchtlinge, die illegal über die für sie als sicher geltende Türkei nach Europa kommen, könnten dorthin zurückgeschickt werden. Ansonsten verspricht die Kanzlerin, man werde die Standards bei der Visaliberalisierung wahren, aber der Türkei dabei helfen, sie zu erfüllen.
Drei Milliarden für syrische Flüchtlinge in der Türkei
Merkel sagt noch mehrmals "Zug-um-Zug", als sie über die Pläne mit Ankara spricht. Denn das soll auch für die Auszahlung der geplanten drei Milliarden Euro Unterstützung gelten, die die Europäer in den nächsten zwei Jahren einsetzen wollen, um die Lebensbedingungen der fast zwei Millionen Syrer in der Türkei zu verbessern. Die EU setzt darauf, dass die Regierung ihnen eine Arbeitserlaubnis erteilt und will ihrerseits helfen beim Bau von Schulen und der Gesundheitsversorgung.
Auf der anderen Seite steht der dringende Wunsch der türkischen Regierung, den eingefrorenen Beitrittsprozess mit der EU wieder in Gang zu bringen. Geplant ist, das Kapitel 17 zu Wirtschafts- und Währungsunion zu eröffnen, dem könne auch Zypern zustimmen. Überhaupt seien die Gespräche in der Zypernfrage derzeit weiter vorangeschritten, als jemals in der langen Geschichte des Dauerkonfliktes, so ist aus Berlin zu hören.
Wie hoch ist der politische Preis?
Der Fortschrittsbericht der EU-Kommission in dieser Woche sah ziemlich verheerend aus: Der Türkei wurden schwere Mängel bei Menschenrechten, bei der Pressefreiheit, dem Schutz von Minderheiten und bei der Justiz attestiert. Es gebe durchaus Fragen nach Menschenrechten und Demokratie, räumt auch Angela Merkel ein. Zudem müsse die Versöhnung mit den Kurden wieder auf die Tagesordnung. Aber von einem politischen Preis, den die EU mit der Aufwertung von Präsident Erdoğan zahlen müsse, will sie nichts wissen. Lieber spricht sie von einer neuen Dimension der gegenseitigen Beziehungen.
Das Ziel für die Europäer ist klar: Sie wollen aus illegaler Migration legale, steuerbare Migration machen. Dabei soll es auch eine "faire Lastenteilung zwischen der EU und der Türkei" geben. Das könnte auch bedeuten, dass die Europäer künftig der türkischen Seite noch syrische Kontingentflüchtlinge abnehmen müssten. "Wir wollen den Zustrom besser ordnen und steuern", fasst Angela Merkel zusammen. Eine Hoffnung, die ihre EU-Kollegen bei diesem sechsten Gipfeltreffen zur Flüchtlingskrise jedenfalls teilen.