Flucht nach vorne
3. August 2016Rami Anis zögert einen Moment, ehe er antwortet und denkt nach. Die Frage hatte er offenkundig nicht erwartet und sie berührt ihn - auf eine nachvollziehbar unangenehme Art. Ein englischer Journalist ist während der Pressekonferenz des internationalen Flüchtlingsteams aufgestanden und möchte wissen, ob Rami im Syrienkrieg Freunde verloren hat. Der 25-jährige Schwimmer blickt ernst und spricht mit gedämpfter Stimme: "Ich habe einen Sportskameraden verloren und auch einen Freund. Ich hoffe, dass ihre Fragen eher in Richtung Zukunft gehen und nicht zurück in die dunkle Vergangenheit."
Rami ist hier, um diese Vergangenheit hinter sich zu lassen. Seine Heimatstadt Aleppo liegt in Schutt und Asche, ein Zurück dorthin ist derzeit undenkbar. 2011 floh er mit seiner Familie vor dem Krieg und auch dem Einzug in die Armee. Zunächst lebte er in Istanbul, konnte dort wegen der fehlenden türkischen Staatsangehörigkeit jedoch nicht bei Schwimmwettbewerben starten. Per Schlauchboot setzte die Familie ihre Flucht fort und erreichte die griechische Insel Samos. Schließlich gelangten sie ins belgische Eeklo, wo Rami sich erst im Februar einem Schwimmverein anschloss. Dass er nun in Rio für das Flüchtlingsteam des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) über die 100 Meter im Schmetterlingsstil an den Start gehen darf, kann er noch nicht richtig fassen: "Das war immer mein großer Traum, bei Olympia zu starten. Am liebsten natürlich unter der Flagge meines Landes. Ich denke an Syrien und hoffe, dass ich 2020 in Tokio wieder für Syrien antreten kann und es keine Flüchtlinge mehr geben wird."
Zehn stehen für 65 Millionen
Diese Hoffnungen dürften sich nicht bewahrheiten. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass das neu gegründete Flüchtlingsteam auch bei den kommenden Spielen unter der Flagge des IOC auflaufen wird. Denn derzeit sind weltweit rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht und damit jeder 113. Mensch auf der Erde. Ihnen allen fehlte bislang die Chance auf einen Start bei Olympia, nun setzt das IOC mit der Flüchtlings-Auswahl ein Signal. "Wir wollen mit dem Team vor allem auf die Flüchtlingskrise aufmerksam machen", sagt die Teamsprecherin Sophie Edington, die betont, wie schwer es ihre zehn Athleten im Vergleich zu vielen anderen Olympia-Teilnehmern haben.
Das Flüchtlingsteam, das eigentlich ein recht bunt zusammengewürfelter Haufen ist und erst in Rio zu einer wirklichen Mannschaft reifen kann, ist also auch eine politische Botschaft: Millionen Menschen auf der Flucht sollen sich mit den ausgewählten Zehn von Rio identifizieren, im Idealfall durch sie neue Hoffnung schöpfen. Das Flüchtlingsteam ist die beste Idee des IOC seit langer Zeit und übrigens keine gut getimte PR in stürmischen Zeiten für den Weltverband des Sports: "Diese Idee entstand schon vor einiger Zeit, lange vor der aktuellen Situation um Russland. Man kann das eine und das andere also nicht vermischen", stellt Edington klar.
"Wir halten zusammen"
Klar ist auch, dass für diese Idee die eigenen Regularien etwas gebeugt werden müssen. Eigentlich dürfen laut Paragraph 27.7.2 der Olympischen Charta nur Nationale Olympische Komitees (NOK) Sportler zu den Spielen entsenden, nicht aber das IOC, wie im Falle der internationalen Flüchtlingsmannschaft. "Das Ganze funktioniert nur, weil die Nationalen Olympischen Komitees, aus deren Gebieten die Flüchtlinge stammen, nicht opponieren", meint IOC-Ehrenmitglied Walther Tröger. Syrien schickt zum Beispiel sieben Athleten unter eigener Flagge, zwei weitere Syrer starten unter der IOC-Flagge.
Eine davon ist Yusra Mardini, schon vor Beginn der Spiele der heimliche Star im kleinen Flüchtlingsteam: Die 18-jährige Schwimmerin, die sich in Berlin auf die Spiele vorbereitet hat, ist eloquent, spricht hervorragendes Englisch und sieht obendrein gut aus - eine Kombination, die bei den Medien gut ankommt. Fast alle Fragen richten sich während der gut besuchten Pressekonferenz an sie. Und sie weiß eben auch, welche Sätze viele hier und vor allem das IOC gerne hören möchten: "Wir sind im Team mittlerweile echte Freunde. Auch wenn wir aus verschiedenen Ländern kommen und andere Sprachen sprechen, halten wir zusammen. Wir werden hier gemeinsam unser Bestes geben und hoffe, dass wir viele Flüchtlinge inspirieren, weiter an der Verwirklichung ihrer Träume zu glauben", sagt Mardini, der das Schwimmen dabei hilft, ihre Probleme hinter sich zu lassen.
Ein Foto mit Michael Phelps
Das will auch Yiech Pur Biel. Er floh 2005 aus dem Südsudan und fing in einem Flüchtlingscamp in Kenia mit dem Laufen an. Dass er nun in Rio im 800-Meter-Lauf starten darf, ist für ihn eine große Chance und zugleich ein Zeichen dafür, was Flüchtlinge erreichen können. "Alle Menschen sind gleich. Dies wollen wir der Welt zeigen. Wir sind alle sehr glücklich, dass das IOC uns diese Chance hier gibt", sagt Yiech im Anschluss an die PK im DW-Interview.
Rami Anis hat derweil sein Lachen wieder gefunden. Er spricht jetzt wieder von der Zukunft. Er träumt davon, mit US-Star Michael Phelps ein Foto zu machen und freut sich wie ein kleiner Junge auf die kommenden Tage: "Der Gedanke, dass ich Seite an Seite mit Weltmeistern schwimmen werde, ist wundervoll." Das Flüchtlingsteam ist damit, auch wenn die Auswahlkriterien bis heute etwas beliebig wirken, die Rückkehr zu einem alten olympischen Ziel: die Jugend der Welt zusammenzubringen - auch diejenigen, die sonst keine Chance auf eine Teilnahme hätten.
Das IOC-Flüchtlingsteam:
Das IOC hat zehn Athleten für das internationale Flüchtlingsteam nominiert. Fünf kommen aus dem Südsudan, zwei Sportler kommen aus Syrien, zwei aus dem Kongo und einer aus Äthiopien. Sie starten in der Leichtathletik, im Schwimmen und im Judo. Ursprünglich gab es 43 Kandidaten, die vom IOC überprüft wurden. Ausgesucht wurden die Athleten ohne feste Normen. Dafür führte das IOC das sportliche Niveau, den durch die Vereinten Nationen verifizierten Flüchtlingsstatus sowie die persönliche Situation als Auswahlkriterien ins Feld.