Flüchtlinge in Schweden: "Wir sind 2015"
13. April 2020Anfang März veröffentlichte Schwedens liberal-konservative Moderate Sammlungspartei auf Facebook ein Bild ihres Vorsitzenden, Ulf Kristersson, in Jagdbekleidung und mit den Worten: "Verstärkt die Grenze. Die Flüchtlingskrise von 2015 darf sich nicht wiederholen."
Atoosa Farahmand wird wütend. "Wie hat er 2015 dargestellt?" Für Farahmand ist 2015 ebenfalls ein wichtiges Jahr. Es ist das Jahr, in dem Millionen Menschen in Europa Schutz suchten und fanden. Und es ist auch "ihr" Jahr: Denn die junge Frau aus dem Iran ist selbst Flüchtling. 2015 bearbeiteten die schwedischen Behörden ihr Asylgesuch, zusammen mit etwa 163.000 anderen Erstanträgen. Der Schauspielerin und Tänzerin gelang es kurz darauf, einen Job zu finden - obwohl sie erst ein Jahr später eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten sollte.
Sie postet ein Bild von sich selbst, in der gleichen Pose wie Kristersson, die Arme verschränkt, der Blick direkt in die Kamera gerichtet: "Jag är 2015!" - "Ich bin 2015". Und sie erzählt ihre eigene Geschichte: Dass sie Steuern zahlt, das Gesetz respektiert und mittlerweile fließend Schwedisch spricht. "Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, wie positiv Flüchtlinge für das Land sein können", schreibt sie auf Schwedisch. "Wir müssen von allen Politikern gehört werden, die nun schlecht über uns sprechen."
Farahmand wendet sich direkt an Kristersson: "Sie sagen, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Ich möchte sagen, dass ich ein Teil von 2015 bin, zusammen mit vielen anderen. Wir sind ein Teil dieses Landes, ob es Ihnen gefällt oder nicht." Zum Schluss ermutigt sie andere, ihre eigenen Geschichten von 2015 zu erzählen. Innerhalb weniger Stunden verbreitet sich ihr Beitrag im Internet.
Ein neues Leben für Migranten - und für Schweden
Jetzt, einen Monat später, hat Atoosa Farahmand über 1.500 Geschichten von Menschen gesammelt, die sagen, auch sie seien 2015. Viele sind ehemalige Flüchtlinge aus Syrien, andere kommen aus Afghanistan oder Somalia.
Es sind Geschichten wie die von Nabila und ihrer Familie, die 2015 vor dem Krieg in ihrer syrischen Heimat flohen. Jetzt ist Nabila Busfahrerin in Ronneby, einer Stadt in Südschweden. Auch Duaa ist 2015 dem Kriegsland entkommen, mittlerweile arbeitet sie als Apothekerin in Malmö. Mohammed floh 2014 und ist nun als Hilfspfleger und Dolmetscher in Kristianstad. Haya kam ebenfalls 2014 und studiert jetzt in Stockholm Architektur. Abdulkarim aus dem syrischen Idlib, heute Bauarbeiter im südschwedischen Boras, erzählt: "In meinem Heimatland habe ich Jura studiert. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Job als Bauarbeiter und der Rechtswissenschaft. Aber das ist für mich kein Problem, da ich hier in Freiheit lebe."
Dazu kommen die Geschichten von Schweden, deren Leben sich 2015 verändert hat, als sie Flüchtlingen und Migranten halfen, sich in dem skandinavischen Land niederzulassen. Eine von ihnen ist Lena Lundstrom, eine Rentnerin aus der mittelschwedischen Stadt Ludvika. Im Jahr 2015 baten die lokalen Behörden sie, Neuankömmlinge aufzunehmen, die mit dem Zug aus Malmö kamen.
"Das passierte nicht ein Mal und nicht zwei Mal", schreibt sie auf Facebook. "Es passierte jeden Tag." Lundstrom wurde schließlich der gesetzliche Vormund von 13 afghanischen Jugendlichen. "Der Weg war steinig, aber alle haben sich an die Situation in dem neuen Land angepasst." Nicht alle ihre Schützlinge haben jedoch eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. "Jetzt, da sie in der Lage sind, die erhaltene Hilfe zurückzuzahlen, können viele von ihnen nicht im Land bleiben. Das ist etwas, was ich nur sehr schwer verstehe", schreibt Lundstrom. Schweden hat zwar vielen Syrern Asyl gewährt. Afghanen bekamen jedoch, wie in vielen anderen europäische Länder auch, nicht den gleichen Schutz.
Eine hausgemachte Krise
"Ich konzentriere mich jetzt darauf, alle Geschichten zu sammeln und sie dem Parlament zu übergeben", sagt Atoosa Farahmand. "Sie müssen diese Geschichten lesen. Wir sind Teil dieses Landes und es ist sehr wichtig, dass sie unsere Stimmen hören und dass wir eine neue Diskussion beginnen, um Lösungen für die Situation in Griechenland und auch in Schweden zu finden."
Farahmand möchte, dass "Jag är 2015" zu einer europäischen Bewegung wird, mit Beiträgen von Menschen aus dem ganzen Kontinent, die ihre Stimme erheben und gehört werden. Es gehe nicht nur um Schwedens Verantwortung. "Wissen Sie, wie viele Flüchtlinge sich derzeit in Griechenland aufhalten? Wenn man sie auf die 27 Länder der EU aufteilen würde, wäre es keine Krise. Es wäre gar nichts."