Flüchtlinge verdrängen Schuldenstreit
2. November 2015Die Flüchtlingskrise hat einiges in Europa auf den Kopf gestellt. Vieles von dem, was bisher galt, wird relativiert. Das gilt auch für die wirtschaftlichen Stabilitätskriterien von EU-Mitgliedsstaaten. Einige meinen, sie würden jetzt so viel Geld zusätzlich für Flüchtlinge ausgeben, dass die EU-Kommission dies bei den Haushaltszahlen berücksichtigen müsse.
Grundsätzlich sieht Brüssel dies ein. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stellte Ende Oktober den Mitgliedsländern, die besonders stark von der Krise betroffen sind. eine flexible Auslegung der Regeln in Aussicht.
Österreich etwa hat gute Chancen, dass solche Sonderkosten im Staatshaushalt mitberechnet werden. Doch, so Juncker: "Es gibt Länder, darunter einige große, die nicht genug tun." Damit dürfte er unter anderem Frankreich gemeint haben. Frankreich hat seit Jahren Schwierigkeiten, seinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Doch mit den Flüchtlingen hat das nichts zu tun, denn Frankreich nimmt im Vergleich zu anderen Ländern nur wenige auf.
Die Kommission befürchtet offenbar, dass Länder die Flüchtlingskrise als Gelegenheit für besondere Zugeständnisse nutzen wollen. So sieht es auch die Bundesregierung in Berlin. Martin Jäger, der Sprecher des Finanzministeriums, sagte dazu: "Wir halten es für falsch, den Stabilitätspakt mit Blick auf diese Problematik aufzuweichen."
"Auch andere tun es"
Besonders forsch geht die griechische Regierung vor. Da Athen erst gut ein Viertel der Reformauflagen umgesetzt hat, halten die Gläubiger zwei Milliarden Euro an frischem Geld zurück. Die griechische Regierung hat wegen der Belastung durch Flüchtlinge Entgegenkommen der Partner ins Gespräch gebracht. Angeblich, so das zuständige Regierungsmitglied Ioannis Mouzalas, "tun dies auch Italien und andere Staaten."
Niemand bestreitet, dass Griechenland stark belastet ist. Athen bekommt aber bereits von der Kommission fast sechs Millionen Euro Unterstützung nur für die Flüchtlingshilfe. Die deutsche Regierung jedenfalls will "keinen Rabatt geben", wie Ministeriumssprecher Jäger klarstellte. Auch Außenminister Frank Walter Steinmeier hatte Athen bei einem Besuch am Donnerstag aufgefordert, "jetzt nicht bei jeder kleinen Schwierigkeit neue Wünsche zu formulieren oder Forderungen aufzustellen".
Verbitterung über die Neuen
Doch finanzielle Aspekte werden jetzt auch umgekehrt als Druckmittel eingesetzt, nämlich wenn es um die Verteilung von Flüchtlingen geht. Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem hat vorgeschlagen: "EU-Staaten, die sich weigern, bei der Aufnahme von Asylsuchenden zu kooperieren, sollten vielleicht ihre Fördermittel in Brüssel gekürzt bekommen."
Dem stimmt auch Herbert Reul, der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, zu: "Wir müssen darüber nachdenken, wie man mit Ländern umgeht, die sich total unsolidarisch verhalten".
Nach Einschätzung der Kommission wäre dies rechtlich schwierig. Janis Emmanouilidis von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre meint auch, es wäre politisch unklug, dieses Mittel einzusetzen: "Bei einer so sensiblen Frage wie der Flüchtlingsfrage muss man versuchen, Kompromisse zu finden, auch die andere Seite zu verstehen."
Wie groß die Enttäuschung bei manchen Altmitgliedern über die Verweigerungshaltung der neuen EU-Staaten im Osten ist, zeigte kürzlich eine überraschend undiplomatische Bemerkung des aus Frankreich stammenden Währungskommissars Pierre Moscovici: "Es war unsere Verpflichtung, die Länder aufzunehmen, die der sowjetischen Tyrannei entflohen waren. Wir haben das mit Enthusiasmus getan". Jetzt würden allerdings "große kulturelle Differenzen zwischen einigen dieser Länder und dem früheren, westlichen Europa" deutlich.
Ankara am langen Hebel
An einem besonders langen Hebel sitzt gerade die türkische Regierung, denn über die Türkei kommen die meisten Flüchtlinge nach Europa. Die Türkei hat zwar versprochen, Migranten von der Flucht abzuhalten und Flüchtlinge wieder zurückzunehmen, will sich das aber teuer bezahlen lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Präsident Recep Tayyip Erdogan noch kurz vor der Wahl Finanzhilfen, Visaerleichterungen und Unterstützung bei den stockenden EU-Beitrittsverhandlungen angeboten, obwohl sie eine erklärte Gegnerin einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft ist und die mangelhafte Menschenrechtslage durchaus sieht.
Doch die EU steht unter Druck. Kommissionspräsident Juncker gestand kürzlich im Europaparlament offen ein: "Ob es passt oder nicht, wir müssen mit der Türkei zusammenarbeiten". Später in Paris sagte er: Wenn die Türkei "ihre Schleusen öffnet, wird es zwei bis drei Millionen Flüchtlinge geben, die kommen". Europa müsse "den Türken den Preis bezahlen".
Janis Emmanouilidis glaubt: "Erdogan wird viel verlangen können, und wir werden bereit sein, viel zu geben", allerdings nur, "wenn er tatsächlich in der Lage sein wird, das umzusetzen, was er dafür versprochen hat". Die Europäer hätten sich die Abhängigkeit von der Türkei selbst zuzuschreiben, denn in der Flüchtlingskrise "haben wir die Situation sich zuspitzen lassen." Emmanouilidis konstatiert: "Der Zusammenhalt unter den Mitgliedsstaaten ist sehr schwach ausgeprägt. Die Fragmentierung hat weiter zugenommen." Er glaubt zwar nicht, dass Europa an dem Problem zerbrechen wird, aber es gehe um eine "sehr schwere Herausforderung", die die EU noch Jahre beschäftigen werde.