Forschende identifizieren vier Hauptursachen für Long COVID
2. Februar 2023Seitdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 11. März 2020 COVID-19 zur globalen Pandemie erklärt hat, ist in der Wissenschaft viel passiert: Es gibt Impfstoffe und medikamentöse Therapien, sodass die akute Erkrankung viel von ihrem einstigen Schrecken verloren hat.
Während die meisten Menschen nach einer überstandenen COVID-19-Infektion wieder vollständig gesund werden, hört das Leid für andere nicht auf. Chronische Schwäche, Kopfschmerzen, Gedächtnisstörungen, aber auch Dinge wie Haarausfall und Libidoverlust stehen auf der langen Liste der Symptome, die unter dem vagen Begriff "Long COVID" zusammengefasst werden.
65 Millionen Long COVID-Betroffene
In einem Übersichtsartikel in der Fachzeitschrift "Nature microbiology" schätzen die Autorinnen und Autoren, dass mindestens 65 Millionen Menschen weltweit unter Long COVID leiden. "Ich halte diese Zahl noch für zu niedrig", sagt Akiku Iwasaki, Immunologin an der Yale University in den USA.
Iwasaki gibt, gemeinsam mit drei weiteren Wissenschaftlern, in einem virtuellen Panel der Leopoldina, der Nationalen Akademie für Wissenschaften in Deutschland, einen Überblick über den Forschungsstand zu Long COVID. Die Experten und Expertinnen sind sich einig: Es gibt immer noch viel mehr Fragen als Antworten.
Doch die Daten zu Long COVID mehren sich, und so konnten Iwasaki und andere Forschende vier Hauptursachen identifizieren, die zu zahlreichen biologischen Veränderungen im Körper führen und mit denen sich die vielfältigen Long COVID-Symptome erklären ließen.
SARS-CoV-2 verschwindet nicht
Die erste Ursache für Long COVID-Symptome könnten chronische Entzündungen sein - ausgelöst durch Reservoirs von SARS-CoV-2, dem Coronavirus, das COVID-19 auslöst, die sich irgendwo immer Körper befinden. Diese Virus-Cluster vermehren sich immer wieder und halten das Immunsystem konstant auf Trab.
"Es kommen immer mehr Studien heraus, die zeigen, dass sowohl virale Antigene als auch Virus-RNA auch Monate nach der akuten Infektion noch im Körper zirkulieren können", so Iwasaki.
COVID-19 triggert Autoimmunität
Eine akute Infektion könnte Immunreaktionen hervorrufen, die sich nicht mehr nur gegen das Virus wenden, das es zu bekämpfen gilt, sondern körpereigene Zellen angreift und zerstört. Dieser Zusammenhang zwischen Infektionskrankheiten und Autoimmunität sei bekannt, so Iwasaki. "Deshalb ist es möglich, dass Autoimmunität eine weitere Ursache für Long COVID sein könnte."
Ein Beispiel dafür könnte die Myalgische Encephalomyelitis sein, besser bekannt als Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Was nach ein bisschen mehr Müdigkeit klingt, ist tatsächlich eine schwere neurologische Erkrankung, die bereits seit Jahrzehnten bekannt ist.
Doch in Folge der Pandemie häuften sich die Fälle. "Wir haben im Sommer 2020 eine Beobachtungsstudie aufgesetzt, um herauszufinden, ob ME/CFS eine Konsequenz von COVID-19 sein kann. Die Antwort ist ja", sagt die Immunologin Carmen Scheibenbogen, die an der Berliner Charité zum Chronischen Fatigue Syndrom forscht.
"Es gibt Hinweise darauf, dass Autoantikörper eine Rolle bei der Entwicklung von ME/CFS spielen", sagt Scheibenbogen. Doch auch die nächste Ursache könnte an der Entwicklung von ME/CFS beteiligt sein.
Reaktivierung anderer Viren
"Die dritte Hypothese, der wir nachgehen, ist die Reaktivierung latenter Viren, wie dem Epstein-Barr-Virus (EBV) oder anderer Herpes-Viren", sagt Iwasaki.
Nach einer Infektion mit Herpes-Viren, bleiben diese im Körper und machen so lange keine Probleme wie das Immunsystem in Habacht-Stellung ist. Eine COVID-19-Infektion bindet die Abwehrkräfte allerdings ausreichend, um das Herpesvirus wieder zu erwecken.
"Wir konnten diese Reaktivierung in einem Teil von Patienten beobachten", sagt Iwasaki. Möglicherweise sei diese Reaktivierung eine weitere Ursache dafür, dass Menschen ME/CFS bekämen, ergänzt Scheibenbogen.
Bleibende Schäden durch akute COVID-19-Erkrankung
Je schwerer die akute Erkrankung mit COVID-19, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit bleibender Schäden, die Long COVID-Symptome verursachen können, sagt Iwasaki über die vierte Hypothese, der die Forschenden nachgehen.
"Diese vier biologischen Vorgänge können einzeln, nacheinander oder auch zusammen auftreten", sagt die Immunologin. Sie anhand bestimmter Biomarker zu unterscheiden sei aber wichtig, um Betroffene richtig behandeln zu können.
Und das ist die Frage, die die Forschenden besonders umtreibt: Wie kann Long COVID-Betroffenen geholfen werden?
Impfung reduziert Long COVID-Risiko
"Long COVID ist ein weiterer Grund, sich impfen zu lassen", sagt der Epidemiologe Michael Edelstein von der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan, Israel. Die Impfung verhindere sehr zuverlässig schwere Verläufe und reduziert so die Wahrscheinlichkeit bleibender Schäden. "Meta-Analysen zeigen, dass das Risiko an Long COVID zu erkranken [bei Geimpften] um etwa 25 bis 30 Prozent sinkt", sagt Edelstein.
Aber die ultimative Lösung für das Long COVID-Problem sei auch die Impfung nicht, räumt Edelstein ein. Die Wissenschaftler wünschen sich, dass mehr Mühe und Geld in die Erforschung von Long COVID gesteckt wird, um die vielen noch offenen Fragen klären zu können.
Welchen Einfluss hat der Zeitpunkt der Impfung und die Anzahl der Dosen? Welche vielleicht schon auf dem Markt befindlichen Medikamente ließen sich zur Behandlung von Long COVID-Patienten einsetzen? Und warum entwickeln manche Menschen nach den Impfungen ähnliche Symptome wie Long COVID-Betroffene? Um der Antwort auf die letzte Frage näher zu kommen, setzen Iwasaki und ihr Team gerade eine Studie auf.
Long COVID ist keine psychosomatische Erkrankung
Trotz vieler Fragezeichen gilt eine Erkenntnis laut der Experten als gesichert: Long COVID-Symptome haben keine psychische Ursache. Da Long COVID den Alltag der Betroffenen stark belasten kann, könnten psychosomatische Phänomene natürlich eine Folge sein, eine Komorbidität sozusagen. Mehr aber auch nicht.
"Die beschriebenen immunologischen Merkmale können Long COVID mit einer Genauigkeit von 96 Prozent voraussagen", sagt Iwasaki über die Ergebnisse einer noch nicht begutachteten Studie, an der sie mitgewirkt hat. "Es gibt keinen Grund, psychosomatische Krankheiten als Ursache anzuführen."
Das halten die Forschenden sogar für schädlich, schließlich würde es Ärzte und Betroffene bei der Suche nach Hilfe und einer angemessenen Therapie nur in die Irre führen.