Frank Castorf: "Kunst ist Ausnahmezustand"
19. August 2013Deutsche Welle: Sie sind dafür bekannt, dass Sie Geschichten nicht der Reihe nach erzählen, sondern gerne mit Raum und Zeit spielen. Bei Wagner allerdings müssen Sie sich an die Partitur und ans Libretto halten. Wie überwinden Sie diese Hürde?
Frank Castorf: Die Werktreue halte ich ein, das habe ich vertraglich zugesichert. Aber ich erzähle darüber hinaus gegenläufige Geschichten, die vielleicht den Stoff genauer erklären können. Dabei spielen dann viele kleine Versatzstücke eine große Rolle, die Theater- und Opernkunst spannend machen: Zum Beispiel kann auch ein stummer Mensch einen sehr wichtigen Kommentar abgeben. Oder auch ein umgefallener Wassereimer. Der wird interessant, wenn er nicht aus Versehen umgeworfen wird, sondern aus tückischer Absicht...
Warum spielt in Ihrer Inszenierung ausgerechnet Öl eine so große Rolle? Ist Öl für Sie das Gold unserer Zeit?
Ich habe mich gefragt, was das Rheingold für uns bedeuten kann. Ich bin davon ausgegangen, dass das Öl für uns heute eine ähnliche Rolle spielt wie das Gold im "Ring". Dem Öl haben wir den ganzen technischen Fortschritt zu verdanken, all unseren Luxus, unsere Wirtschaft. Und Öl vernichtet. Irgendwann in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Öl in Baku in Aserbeidschan entdeckt. Und wir alle kennen aus Dokumentarfilmen die Bilder, wie man das Öl aus diesen "heiligen Quellen", wie sie in Baku genannt werden, gewonnen hat. Erst fand der Raubbau unter der Knute der Kosaken statt; das war während der Kolonisation Aserbeidschans durch die Russen. Später dann durch die Sowjets. Alle Europäer haben von diesen Ölvorkommen profitiert: die Engländer, die Deutschen, die Belgier. Und dann kamen der Erste Weltkrieg und die Amerikaner mit ihrer Standard Oil Company. Da haben die Russen gesagt: "Ölhahn zu". Das Öl wurde verstaatlicht und sollte nur noch in den monströsen Aufbau der Sowjetunion fließen - auf Kosten vieler Millionen Menschen, die für diesen "Fortschritt" ihr Leben ließen.
Viele sehen ja in Wagner vor allem den Antisemiten. Der sogenannte "Bayreuther Kreis" um Cosima Wagner habe die Festspiele zu "Hitlers Hoftheater" gemacht, sagte der Schriftsteller Thomas Mann. Hat Sie diese nationalsozialistische Vergangenheit Bayreuths bei Ihrer Inszenierung interessiert?
Ich kann's nicht mehr hören. Und deshalb waren die beiden Damen (Anm. d. Red.: die Festspiel-Chefinnen Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier) auch sehr froh, dass hier jetzt keine Hakenkreuze auftauchen, keine Reichskanzlei und kein Hitler. Immer "Heil Hitler" und "Heil Wagner" - das ist doch langweilig. Mich interessiert die Blutspur des Öls, wo die Interessen der Russen und Amerikaner aufeinander prallten.
Könnte man also den Gott Wotan und den Zwerg Alberich quasi als die Antipoden der Systemblöcke Ost und West verstehen?
Ich möchte nicht immer begründen müssen, warum ich etwas mache. Kunst ist für mich ein Ausnahmezustand. Und der Ausnahmezustand wird oft durch ein sehr zweifelhaftes Kunstverständnis überformt - durch Erklärungsversuche in Programmheften oder durch Pressekonferenzen. Eben weil wir immer alles wissen wollen. Wir wollen keine Fehler machen. Wir haben eine ungeheuere Angst, als Dilettanten zu gelten. Ist doch Quatsch! Es gibt so viel Sinnlichkeit, die aus dem Moment entsteht. Günter Netzer wusste auch nicht, welchen Pass er spielen musste, um ein Tor zu machen. Aber er wusste, worauf es ankommt.
Sie verwenden in Ihrer Inszenierung sehr viele Videos, setzen Kameras ein, eine Drehbühne. Wie wichtig ist das für Sie?
Ich habe schon Ende der 80er Jahre in der DDR angefangen, mit Videoprojektionen zu arbeiten. Das war damals etwas Subversives, weil man ja vielleicht etwas zeigen könnte, was nicht verabredet war. Und natürlich ist mein ganzes Theater gegen jede Verabredung. Alles was Übereinstimmung ist, hasse ich und habe ich immer gehasst. Damit hatte ich im Osten genug zu tun. Ich bin ein Querulant: Wenn ich schwarz höre, muss ich weiß sagen. Der Einsatz von Kameras bietet mir - neben Überraschungseffekten - viele Möglichkeiten: Ich kann nah ran gehen. Ich kann schöne Bilder machen, ich kann provozierende Bilder machen. Es ist interessant, ein Gesicht in Nahaufnahme zu zeigen - auf einmal sehe ich den Menschen in einem anderen Zustand: Ich sehe, wie er schwitzt und wie seine Maske durch den Schweiß wegfließt. Ich mag diese Veränderungen, und die Kamera zeigt sie mir ganz genau. Für mich hat das etwas sehr Sinnliches, wenn ich diese Nähe zu Menschen habe.
Um die "Ring"-Inszenierung im Wagner-Jubiläumsjahr gab es schon im Vorfeld Schlagzeilen. Viele Regisseure waren im Gespräch, verpflichtet wurde Frank Castorf. Der 1951 in Ostberlin geborene Regisseur ist Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Castorf ist dafür bekannt, sich gern über Theaterkonventionen hinwegzusetzen. Nicht nur die Fachwelt ist auf seine Deutung von Wagners Vieropernzyklus "Der Ring des Nibelungen" gespannt.
Das Gespräch führte Hans Christoph von Bock