Frankreich - die Schlechte-Laune-Republik
2. Mai 2016"Wir sind an einem Wendepunkt. Ein Teil der Bevölkerung steckt den Kopf in den Sand, aber anderen wird endlich bewusst, dass etwas nicht stimmt. Die Menschen glauben nicht mehr an die Politiker. Erst war die Rechte an der Macht, dann die Linke. Alle haben enttäuscht", sagt Kulturstudentin Gabrielle. Die Verachtung für die etablierte Politik teilt die Zwanzigjährige mit Millionen von Franzosen. Aus diesem Frust speisen sich nicht nur Dauerproteste der Linken, sondern auch die Erfolge der rechtspopulistischen Front National: Ein Teil der Wähler will einfach nur, dass einmal ganz "Andere" an die Macht kommen.
Die Stimmung
"In Frankreich wollen alle etwas Verschiedenes - die Politiker, das Volk, die Arbeiter. Die sollten endlich miteinander reden. Wir sind die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und haben Millionen Arbeitslose", klagt Filmregisseur Gilles Saulnier. Die Arbeitslosigkeit und ein diffuses Bedürfnis nach Veränderung haben unter der linken Jugend der Großstädte die "Nuits Debout" hervorgebracht. Nächtliche Diskussionsforen mit leicht revolutionärer Grundstimmung und ohne klares Ziel, gelegentliche Schlägereien mit der Polizei inbegriffen.
Französische Intellektuelle geben sich derweil Untergangsphantasien hin: Michel Houellebecq sieht die Islamisierung als größte Bedrohung, Alain Finkelkraut schreibt von der "Unglücklichen Identität" Frankreichs, und Eric Zemmours Traktat "Der französische Selbstmord" wurde zum Bestseller. Die Stimmung bei ihnen scheint depressiv-suizidal. Sie sagen den baldigen Untergang der "Grande Nation" voraus.
Die Wirtschaft
Manchmal gibt es vereinzelte Erfolge: Kürzlich konnte sich Frankreich in Konkurrenz zu Deutschland einen 35 Milliarden Auftrag zum Bau von U-Booten für Australien sichern. Paris jubelte. Aber die Erfolge sind nur partiell. "Ich bin wirklich sauer auf die Regierung", sagt Bertrand Boissier, Chef des Kabelherstellers BMS und Vizepräsident der Handelskammer. "Jetzt auf einmal - ein Jahr vor den Wahlen - geht es der Wirtschaft angeblich besser, wie die Arbeitslosenzahlen zeigen sollen. Aber die haben einfach nur Leute aus den Listen gestrichen. Die Unternehmen machen immer weiter dicht, eines nach dem anderen, und immer mehr Leute werden entlassen. Der Wirtschaft geht es miserabel".
Und die Daten bleiben flau: Seit 2010 schiebt Frankreich ein zu hohes Defizit von vier bis fünf Prozent vor sich her. Die jährlichen Mahnbriefe aus Brüssel wurden in Paris einfach abgeheftet. Inzwischen aber scheinen die Sparbemühungen zu fruchten. In diesem Jahr werde die Neuverschuldung auf 3,5 Prozent sinken, kündigte der Finanzminister stolz an. Das Wirtschaftswachstum allerdings dümpelt bei 1,2 Prozent, und die Arbeitslosigkeit bleibt die Achillesferse von Präsident Francois Hollande. Zwar gab es im April einen Ausschlag nach unten, aber noch immer sind rund 3,5 Millionen Franzosen auf Arbeitssuche, darunter viele Jugendliche. Die Quote liegt bei rund zehn Prozent - ein richtiger Aufschwung sieht anders aus.
Der Hoffnungslose
Der Motorroller hat Francois Hollande kein Glück gebracht. Schuld war nicht die Affäre mit der Schauspielerin Julie Gayet. Es war die nächtliche Fahrt zu ihr auf dem Scooter, im Anzug und mit Helm - der Präsident der Republik sollte sich nicht so lächerlich machen, hieß es. Rückblickend war das vielleicht eine der harmloseren Anekdoten seiner Amtszeit. Was die Franzosen Hollande vor allem verübeln, ist seine anhaltende Erfolglosigkeit. Bei seiner Wahl im Mai 2012 feierte Paris in den Straßen. Heute ist er der unbeliebteste Präsident aller Zeiten: 87 Prozent der Franzosen sind mit ihm unzufrieden, drei Viertel wollen nicht, dass er 2017 zur Wiederwahl antritt. Als Hollande jüngst in einer Fernsehsendung behauptete, der Wirtschaft gehe es besser, giftete ein Journalist zurück: "Sie scherzen wohl?"
Das hat auch mit den Erwartungen an den sozialistischen Präsidenten zu tun: Unternehmer und Parteifreunde der politischen Mitte wollen durchgreifende Reformen. Linke dagegen blockieren jeden Versuch, den verkrusteten französischen Sozialstaat flexibler zu machen. "Die Leute, die politisch auf der Linken stehen, sind wirklich von der Regierung enttäuscht. Die Wirtschaft ist angeschlagen, und ich mache wir vor allem Sorgen um die Jugend", sagt Cécile, Beamtin im Bürgermeisteramt. Sie marschierte mit Tausenden von Demonstranten einmal mehr gegen die Reform der Arbeitsgesetze durch Paris.
Der Präsident kann es unmöglich allen recht machen. Und er wirkte unentschlossen und ziellos bei dem Versuch. Erst im vorigen Jahr wagte Hollande erste Eingriffe in das Dickicht des französischen Regulierungsdschungels. Viel zu spät, klagten Kritiker. Aber sogar die Notare gingen gegen die Beschneidung ihrer Privilegien auf die Straße. Jeder Reformansatz wird nach französischer Tradition mit Protesten beantwortet. Dem Präsidenten aber fehlten der Mut und die Durchsetzungskraft in seiner eigenen Partei für den nötigen Befreiungsschlag. Francois Hollande hat noch nicht beschlossen, ob er im nächsten Jahr zur Wiederwahl antritt. Vielleicht sollte er es lassen: Umfragen sehen ihn bei 14 Prozent - hinter Marine Le Pen von der Front National.
Der Hoffnungsträger
Auf dem linken Parteiflügel der Sozialisten gilt er als Verräter, auf dem rechten als Hoffnungsträger. Und seitdem er eine politische Initiative namens "Vorwärts" ins Leben gerufen hat, gilt er auch als potentieller Präsidentschaftskandidat: Emmanuel Macron ist 38 Jahre jung und zeigte sich unlängst mit seiner fast 20 Jahre älteren Frau der Klatschpresse, ein Zeichen für höhere Ambitionen. Bevor er 2014 Wirtschaftsminister im Kabinett Hollande wurde, war er Investmentbanker. Damit gilt Macron unter den sozialistischen Parteifunktionären als exotischer Vogel ebenso wie als Hassobjekt. Aber die Franzosen honorieren in den Umfragen seine Unabhängigkeit, seine Weltläufigkeit und seinen Elan: Macron könnte im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl immerhin einen konservativen Kandidaten Nicoals Sarkozy hinter sich lassen.
Der Wirtschaftsminister profilierte sich im Kabinett schnell als kapitalistischer Stein des Anstoßes und als Schlächter von heiligen Kühen: Er setzt sich für Sonntagsarbeit ein, will die 35-Stunden-Woche abschaffen, den Arbeitsmarkt flexibilisieren und die Sozialabgaben senken. Zu Hollandes früherer Idee für eine Reichensteuer von 75 Prozent meinte Macron:"Das ist Kuba, nur ohne die Sonne". Andererseits kritisiert er auch die Chancenlosigkeit der jungen Migranten in den Vorstädten. Sein politischer Ziehvater Hollande aber hat den aufsteigenden Polit-Star inzwischen ermahnt: Er müsse im "Team spielen" und unter seiner Aufsicht. Aber ob Emmanuel Macron schon 2017 zur Präsidentschaftswahl antreten will, lässt er vorläufig noch offen.
Die Kandidaten
Das politische Spektrum ist breit und enthält allerhand bekannte Gesichter. Schon zehn Bewerber haben sich für die Wahl gemeldet, zwischen ganz links bis ganz rechts, und die Liste wird noch länger werden. Bei den Konservativen kam Nicolas Sarkozy früh aus der Deckung. Er betreibt schon seit einem Jahr sein politisches Comeback. Aber seine alten Skandale lasten wie Blei auf ihm - und seine Läuterungsschwüre ernten Spott. Sarkozy ist und bleibt zutiefst unbeliebt. Die große Mehrheit der Franzosen will ihn nicht zurück und bevorzugt seinen Herausforderer Alain Juppé, derzeit Bürgermeister von Bordeaux. Im November bei ihren "Primaires" werden die Konservativen entscheiden.
Die große Gegenspielerin auf der anderen Seite ist Marine Le Pen, Kandidatin des rechtspopulistischen Front National. Die Umfragen sehen sie im ersten Wahlgang bei rund 30 Prozent - damit könnte sie sogar nach Stimmenanteil vorn liegen. Denn Linke, Konservative und Liberale sind so zersplittert, dass allenfalls Alain Juppé es schaffen könnte, sie direkt zu schlagen. In der Stichwahl dann dürfte das Bild sich ändern: Die große Mehrheit der Franzosen wird sich - wie schon 2002 beim Rennen zwischen Jaques Chirac und Jean-Marie Le Pen - hinter dem konservativen Kandidaten versammeln. Die besten Chancen auf eine breite Mehrheit hat dabei nach bisherigem Stand Juppé. Die Sozialisten müssen sich wohl auf eine längere Durststrecke vorbereiten. Es sei denn, es geschieht noch ein Wunder. Schließlich ist ein Jahr eine lange Zeit in der Politik.