Frankreich: Kräftemessen am Rande der EM
14. Juni 2016Gefährden die Streiks in Frankreich die Fußball-Europameisterschaft? Diese Frage beherrscht die Berichterstattung in Deutschland über den Arbeitskampf im Nachbarland. Darüber hinaus scheinen sich deutsche Medien nicht sonderlich für das zu interessieren, was Frankreich seit rund drei Monaten bewegt.
Im Kern geht es um ein Gesetzesvorhaben, das die Arbeitsministerin Myriam El Khomri für die Regierung von Premierminister Manuel Valls auf den Weg gebracht hat. Eine größere Flexibilität im Arbeitsrecht soll die hohe Arbeitslosigkeit reduzieren helfen. Die liegt bei mehr als zehn Prozent, unter jungen Menschen sogar bei fast 24 Prozent.
Weil sich nicht einmal unter den regierenden Sozialisten eine Mehrheit für das Gesetz fand, drückte es die Regierung im Mai per Dekret ohne Abstimmung durchs Parlament. Dabei stützte sie sich auf einen Verfassungsparagraphen, den François Hollande früher, als er noch nicht Präsident war, als "Demokratieverweigerung" bezeichnet hatte.
Das Gesetz
Das Gesetz liegt derzeit beim Senat und hat auch schon verschiedene Änderungen hinter sich, weitere werden womöglich folgen. "Das Kernstück aber wird sicherlich bleiben", sagt Isabelle Bourgeois, Forscherin am CIRAC, dem Zentrum für Deutschland-Studien an der Universität von Cergy-Pontoise. "Das Gesetz sieht vor, dass nicht mehr der Staat für das Arbeitsrecht und die Regelung der Arbeitszeiten zuständig ist, sondern - und das ist eine wirkliche Reform - zunächst einmal das Unternehmen selbst, also die Sozialpartner innerhalb des Unternehmens."
Die Gewerkschaften kämen erst an zweiter Stelle, gefolgt von der Regierung und den Branchenverbänden, so Bourgeois im DW-Gespräch. "Im Hintergrund geht es dabei, ohne dass das jemand sagt, um das Ende der 35-Stunden-Woche."
Nicht alle Gewerkschaften lehnen das Gesetz ab. Die reformorientierte Gewerkschaft CFDT etwa hat ihren Widerstand aufgegeben, nachdem sie in Verhandlungen einige Änderungen durchsetzen konnte. "Der Chef der CFDT, Laurent Berger, ist sogar ein starker Befürworter des Gesetzes, weil es Verhandlungen innerhalb der Unternehmen ermöglicht", erläutert Dominique Andolfatto, Gewerkschaftsexperte und Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bourgogne Franche-Comté.
"Protest kommt dagegen weiterhin von Gewerkschaften wie der CGT, die einst der Kommunistischen Partei nahestand", so Andolfatto zur DW. "Aber selbst die CGT will das Gesetz nicht mehr ganz kippen, sondern weitere Lockerungen erreichen."
Die Gewerkschaften
Bei den Streiks geht es nach Ansicht von Isabelle Bourgeois weniger um das neue Arbeitsgesetz, sondern um Machtdemonstration. "Die Gewerkschaften, die jetzt streiken, sind kommunistisch und trotzkistisch." Mächtig sind sie, weil sie strategisch wichtige Bereiche des öffentlichen Dienstes kontrollieren. "Sie sitzen im Strombereich, in der Müllabfuhr, bei den Hafenarbeitern, in den Ölraffinerien, im Transportwesen. Und dazu kommen noch Berufsgewerkschaften wie die Piloten."
"Dabei streikt jeder für etwas anderes", so Bourgeois. "Es geht also um sehr viele verschiedene Einzelkämpfe, die alle zusammengefasst werden unter dem Obergriff Protest gegen die Arbeitsmarktreformen."
In Deutschland wäre das nicht möglich, weil Gewerkschaften hier erst zum Streik aufrufen dürfen, wenn lange Verhandlungen über Tarifverträge gescheitert sind. Was erlaubt ist und was nicht, wird im Zweifel von Gerichten entschieden, ein eigenes Gesetz gibt es nicht.
"In Frankreich ist das Streikrecht dagegen in der Verfassung verankert und ermöglicht, anders als in Deutschland, auch politische Streiks und Solidarisierungsstreiks", sagt Julie Hamann vom Frankreich-Programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Dadurch kommt es bei Reformprojekten immer wieder zu großen, branchenübergreifenden Streikbewegungen, die das Land dann sehr stark prägen."
Die Bevölkerung
Anders als in Deutschland, wo es im vergangenen Jahr viel Kritik an den Streiks der Lokführer und Piloten gab, lehnt die französische Bevölkerung die Streiks nicht ab. "Am Anfang der Mobilisierung war die Unterstützung relativ groß und lag zwischen 55 und 60 Prozent", so Hamann zur DW. "Doch je länger die Streiks dauern und das öffentliche Leben beeinträchtigen, desto geringer wird die Unterstützung der Bevölkerung. Mittlerweile liegt sie unter 50 Prozent."
Politikprofessor Dominique Andolfatto erwähnt die "Nuits debout", nächtliche Protestveranstaltungen meist junger Franzosen in Paris, stellt aber fest: "Unter den jungen Franzosen gibt es nicht die eine Position zu den Streiks. Die Haltungen reichen von Gleichgültigkeit bis zu mehr oder weniger radikalen Formen des Protests."
Die Unterstützung der Streikenden durch die Bevölkerung sei für die meisten Franzosen eine Art "Ersatzprotest", sagt CIRAC-Forscherin Isabelle Bourgeois. "Sie sind ja nicht im öffentlichen Dienst, sie sind nicht privilegiert, sie haben Schwierigkeiten und finden keine Arbeit. Aber sie können nicht streiken, weil es in der Privatwirtschaft kaum Gewerkschaften gibt. Also träumen sie davon, auch mal erhört zu werden. Es ist ein Stellvertreterkampf."
Die Zukunft
An diesem Freitag (17.06.2016) trifft sich Philippe Martinez, Chef der linken Gewerkschaft CGT, mit der französischen Arbeitsministerin El Khomri. "Dann wird sich zeigen, ob sich die verschiedenen Seiten noch Zugeständnisse abringen können", sagt Hamann von der DGAP.
Sicher sei aber, dass die französische Regierung nicht mehr zurück könne. "Das Gesetz muss unbedingt durchgeboxt werden, damit die Regierung nicht ihr Gesicht verliert", sagt Isabelle Bourgeois. "Es geht auch um ein Zeichen in Richtung Brüssel: Wir, Frankreich, verletzen zwar immer noch den Stabilitätspakt, aber trotz aller Schwierigkeiten setzen wir Reformen um."
Dabei seien sich Regierung und Bevölkerung bewusst, dass das Land eigentlich Reformen brauche, die weit über das Arbeitsmarktgesetz hinausgehen, glaubt Bourgeois.
Die aber werden, wenn überhaupt, wohl erst vom nächsten Präsidenten - oder der nächsten Präsidentin - umgesetzt, schließlich ist François Hollande der unpopulärste Präsident der Fünften Republik. "Mit diesem Vertrauensverlust stehen die Chancen schlecht", sagt Hamann von der DGAP, "dass Hollande vor dem Ende seiner Amtzeit noch eine tiefgreifende Reform durchbringen kann."