Macrons Verlust als Chance für Frankreich
Seit Emmanuel Macron 2017 zunächst Präsidentschaftskandidat und dann Staatsoberhaupt Frankreichs wurde, war sein erklärter Hauptgegner die äußerste Rechte unter Marine Le Pen.
Seine Partei entwickelte Strategien, um Le Pens Bewegung Rassemblement National, auf Deutsch die Nationale Versammlung, den ehemaligen Front National, bei kommunalen, regionalen und nationalen Wahlen auf Abstand zu halten. Das hielt die Rechtspopulisten aber nicht davon ab, bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen an Boden zu gewinnen, so dass Macron mit weniger Vorsprung vor Le Pen siegte als vor fünf Jahren.
Aber jetzt ist es nicht die äußerste Rechte, die Macron am meisten Kopfschmerzen bereitet - es ist die äußerste Linke.
Macrons Partei und seine Verbündeten haben den größten Teil der Sitze in Frankreichs Parlament, der Nationalversammlung, gewonnen - aber sie sind mehrere Dutzend Abgeordnete von einer absoluten Mehrheit entfernt. Le Pens Partei dagegen hat die Anzahl ihrer Sitze von nur acht im Jahr 2017 bei dieser Wahl mehr als verzehnfacht.
Die zweite Kraft aber ist die sogenannte Neue ökologische und soziale Volksunion, abgekürzt Nupes, unter Führung der Linksaußen-Partei Unbeugsames Frankreich von Jean-Luc Mélenchon.
Die linke Allianz, zu der auch Sozialisten, Kommunisten und Grüne gehören, hat Wähler mit ökologischen und sozialen Maßnahmen geködert, inklusive einer "Jobgarantie für alle". Das Bündnis ist außerdem protektionistisch: Es gelobt, große Energiekonzerne zu verstaatlichen und öffentliche Ausschreibungen auf französische Unternehmen zu beschränken. Es gibt sich auch euroskeptisch, indem es bestimmte EU-Regelungen einschränken will. Und schließlich plädiert es dafür, das Verteidigungsbündnis NATO zu verlassen.
Frankreich kennt keine Koalitionen
Die absolute Mehrheit im Parlament zu verpassen, wäre kein Drama für eine Regierung in anderen Ländern wie etwa Deutschland. Dort bilden Parteien üblicherweise Koalitionen und arbeiten zusammen. In Frankreich aber könnte das zum Problem werden.
Solch eine Situation gab es zuletzt von 1988 bis 1991 unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterand, als seiner Partei 14 Sitze zur absoluten Mehrheit von 289 Parlamentssitzen fehlten. Seine Regierung musste jeweils die Unterstützung der rechten und der linken Parteien erringen, um Gesetze durchzubringen. Kompromisse zu finden, stellte sich jedoch als so schwierig heraus, dass die sozialistische Regierung 28 Mal in drei Jahren neue Maßnahmen an ein Misstrauensvotum gekoppelt hat.
Aber die Möglichkeit, die Vertrauensfrage zu stellen, wie es Artikel 49.3 der Verfassung vorsieht, ist später eingeschränkt worden. Macron und seine Regierung können das nur einmal während der jährlichen Sitzungsperiode des Parlaments und nur für die Abstimmung über den Haushalt machen.
Macron und die Angst vor einer "Parlamentsguerilla"
Der wiedergewählte Präsident und seine Minister werden im ganzen politischen Spektrum nach Unterstützung suchen müssen. Bei marktwirtschaftlichen Entscheidungen müssen sie mit starkem Gegenwind der Linksaußen-Allianz rechnen. Nupes wird alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um Diskussionen in der Nationalversammlung zu blockieren oder zu verzögern.
Die 17 Abgeordneten der Partei Unbeugsames Frankreich haben das in den vergangenen fünf Jahren bereits getan. Jetzt, da das Linksbündnis unter der Führung der extremen Linken etwa zehn Mal mehr Sitze errungen hat, könnte Macrons Regierung Angst davor haben, was Beobachter eine "Parlamentsguerilla" nennen.
Macron selber hat vor dem zweiten Wahlgang gesagt, dass "nichts schlimmer wäre, als französisches Chaos dem internationalen Chaos hinzuzufügen". Seine Minister haben vor einem "unregierbaren Frankreich" gewarnt.
Die Kunst des Kompromisses
Aber die neue Sitzverteilung wird Präsident Macron - der den Ruf hat, Entscheidungen am liebsten allein zu treffen - wohl auch zwingen, die Meinung der linken Wähler stärker zu berücksichtigen. Das könnte für ihn und seine Regierung eine Chance sein, die Kunst des Kompromisses zu erlernen und jene Bürger zu beschwichtigen, die sich derzeit von abgehobenen Politikern in Paris abgehängt fühlen.
Radikalisierte französische Wähler - von der äußersten Rechten wie der äußersten Linken - könnten ihre Sichtweisen in den Debatten in der Nationalversammlung wiederfinden.
Das könnte dazu beitragen, das Land von einigen seiner extremistischen Perspektiven zu heilen und die Menschen wieder zusammenzubringen. Ein starkes, einiges Frankreich wäre eine gute Sache. Für das Land selber und für die Welt.
Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Beate Hinrichs.