Frankreich nach der Wahl: Koalition dringend gesucht
8. Juli 2024Die magische Zahl von 289 kann keiner der drei politischen Blöcke in Frankreich nach der Parlamentswahl erreichen. 289 Sitze ist die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Die braucht ein Premierminister oder eine Premierministerin, um die obligatorische Vertrauensfrage nach Ernennung durch den Präsidenten der Republik zu überstehen.
Die linke "Neue Volksfront" ("Nouveau Front Populaire", NFP), ein Bündnis von Linksextremen, Sozialisten, Kommunisten und Grünen, erreicht 182 Sitze: Platz 1. Das liberale Mitte-Bündnis "Ensemble" von Präsident Emmanuel Macron verliert stark und kommt mit 168 Sitzen auf Platz 2. Die rechtsextreme Partei "Rassemblement National" (RN) belegt mit 143 Abgeordneten trotz großer Zuwächse überraschend nur Platz 3.
Rechtsextreme gewinnen viele Stimmen, aber weniger Sitze
Die Blöcke müssten zusammenarbeiten, um eine Regierung bilden zu können. Mit dem RN möchten die anderen Gruppierungen auf keinen Fall zusammengehen. Die mehrfache Präsidentschaftskandidatin des RN, Marine Le Pen, sagte "die Flut steigt weiter. Diesmal war sie noch nicht hoch genug, aber sie wird steigen. Darum ist unser Erfolg nur verzögert." Der RN beklagt, dass er wegen des in Frankreich geltenden Mehrheitswahlrechts in den 577 Wahlkreisen, nicht gewinnen konnten, obwohl in absoluten Zahlen 10 Millionen Menschen für die Partei gestimmt haben. Das Linksbündnis hat mit nur 6 Millionen Stimmen mehr Mandate holen können.
Koalition und andere Optionen
Bleibt also eine Zusammenarbeit zwischen Linksbündnis und der Macron-Gruppe Ensemble. Das haben beide Lager bislang immer ausgeschlossen. "Sie müssen jetzt lernen, wie man Koalitionen zusammenbaut. Das war in Frankreich bislang völlig unüblich", sagt Celia Belin vom Pariser Büro der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR). Die Gespräche zwischen den Parteibündnissen haben an diesem Montag begonnen. Sie werden wohl einige Wochen dauern, meint Celia Belin.
Da das neue Linksbündnis eilig zusammengezimmert wurde, nachdem Präsident Emmanuel Macron in einem riskanten politischen Manöver völlig überraschend Neuwahlen angesetzt hatte, ist es keineswegs stabil. Die linken Parteien sind sich untereinander nicht wirklich einig und konnten bislang keinen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Premiers nominieren.
In französischen Medien wird spekuliert, dass der liberale Macron darauf setzen könnte, das linke Bündnis zu spalten. Dann könnte er mit Teilen davon, den Grünen, Sozialisten und zusätzlich mit den christdemokratischen Republikanern eine Regierungskoalition schmieden. Möglich wäre auch eine geduldete Minderheitsregierung, wenn ihr nur einige Stimmen zur absoluten Mehrheit von 289 fehlen sollten. Eine letzte Option wäre eine Technokratenregierung, die mit parteilosen Ministern arbeitet und vom Parlament geduldet wird. Sollte nichts davon klappen, könnte der Präsident die Nationalversammlung erneut auflösen. Das geht aber erst ein Jahr nach der letzten Wahl, also im Juni 2025. So schreibt es die Verfassung vor.
Olympia mit alter Regierung
Den amtierenden Regierungschef Gabriel Attal, Hoffnungsträger von "Ensemble", belässt der Präsident vorläufig geschäftsführend im Amt. Einen Regierungswechsel und dramatische Parlamentsdebatten während der Olympischen Spiele, die in drei Wochen in Paris beginnen, will Frankreich vermeiden. Die Spiele sollen bis Ende August sicher und reibungslos ablaufen. Danach ist nach den Sommerferien Zeit für politisches Drama. Gabriel Attal hatte noch am Wahlabend seinen Rücktritt angeboten.
Tiefe Gräben bei den Inhalten
Innenpolitisch wird die bisherige Regierungspartei "Ensemble" große Zugeständnisse an einen möglichen linken Koalitionspartner machen müssen. Das neue Linksbündnis will das Rentenalter wieder absenken, das Emmanuel Macron gerade erhöht hatte. Der Mindestlohn soll auf 1600 Euro steigen. Unternehmen sollen verstaatlicht werden und Staatsausgaben, damit auch die enorme Schuldenlast der Republik, sollen weiter für soziale Wohltaten erhöht werden.
Außenpolitisch sehen die Linksparteien die EU, die NATO und die USA - als Verkörperung einer kapitalistischen Supermacht - sehr viel kritischer als die Macronisten. Auch Deutschland wird von den Linken im Kräftespiel der EU-Mitglieder kritisch gesehen. Die Hilfe für die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland würden sie fortsetzen, allerdings gibt es Forderungen nach Friedensverhandlungen mit Russland. Die lehnt Emmanuel Macron im Verein mit der EU im jetzigen Stadium des Krieges ab.
Handfesten Streit dürfte es um die Haltung gegenüber Israel und der Terrororganisation Hamas geben. Das linke Bündnis - hier vor allem die extreme Partei "Unbeugsames Frankreich" - lehnt die Regierung Netanjahu in Israel ab und tritt nur für die Interessen der Palästinenser ein. Das gesamte Bündnis will eine Kündigung des Assoziierungsabkommens der EU mit Israel erreichen. Dem Chef von "Unbeugsames Frankreich" ("La France Insoumise", LFI), Jean-Luc Mélenchon, wird sogar Antisemitismus vorgeworfen. Mélenchon weist das zurück.
"Jupiter" hat falsch kalkuliert
Ehrgeizige Reformvorhaben und visionäre Europapolitik werden in den nächsten Wochen und Monaten nicht auf der Agenda des Präsidenten Emmanuel Macron stehen, der 2027 nicht wieder zur Wahl antreten kann. Ohne die eilig angesetzte Neuwahl hätte er bis dahin ohne Koalition weiter regieren können. Für Macron ist die Situation schlechter als zuvor, von der gewünschten Klarheit, die er in einer TV-Ansprache versprach, gibt es keine Spur. "Kann Macron wirklich eine tragfähige Koalition aushandeln? Das entspricht eigentlich nicht seiner bisherigen Haltung", meint Celia Belin von der Denkfabrik ECFR in Paris.
Von seinen Kritikern wurde der 46 Jahre alte Macron oft als selbstherrlicher "Jupiter" oder als entrückter Sonnenkönig dargestellt, der zu einsamen Entscheidungen neigt. Den Spitzennamen Jupiter hat der Präsident sich selbst eingehandelt, als er im Wahlkampf 2016 davon sprach, dass das Volk in Frankreich nach einem über den Dingen schwebenden, jupitergleichen Staatsoberhaupt sehne. Damals als Kontrast zum glanzlosen Amtsvorgänger Francois Hollande gemeint, der auf dem Moped durch Paris zu seiner Geliebten fuhr.