Franz Kafka - ein literarisches Rätsel
11. September 2013Da liegt er, der hilflose Mensch. Sein Rücken ist panzerartig hart. Hebt er den Kopf, sieht er seinen gewölbten, braunen Bauch, und seine kläglich dünnen Beine flimmern ihm hilflos vor Augen. Ist das der Körper eines Menschen? Nein. Es ist der eines gewaltigen Ungeziefers. Eines abstoßenden Käfers, der am Abend zuvor noch ein Mensch war.
"Die Verwandlung" heißt Kafkas Geschichte aus dem Jahr 1912 und sein vielleicht berühmtester erzählerischer Text überhaupt. Ein schauriger, beunruhigender Text über die Verwundbarkeit des Menschen und seine prekäre Stellung in der Welt, die ihn über Nacht zum Außenseiter machen kann.
Studierter Jurist
Franz Kafka verbrachte sein ganzes Leben in Prag. Dort hatte er Jura studiert und danach viele Jahre für die "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt" gearbeitet. Doch das war für ihn ein bloßer "Brotberuf", und in seiner Heimatstadt fühlte er sich nie so richtig wohl. Kafka entstammte einer großen jüdischen Familie und gehörte zu den rund zehn Prozent Pragern, deren Muttersprache Deutsch war. Und so schrieb er auch: auf Deutsch, nicht auf Tschechisch.
Doch diese Realität von Kafkas Leben im Prag des beginnenden 20. Jahrhunderts drang nur teilweise in seine Romane vor. Stattdessen herrscht in ihnen eine merkwürdig unwirkliche Atmosphäre. Die Protagonisten wirken weniger wie echte Menschen aus Haut und Haar, sondern erscheinen eher wie Figuren auf einem Schachbrett, wo sie von unsichtbarer Hand hin- und hergeschoben werden.
"Sie haben mich unglücklich gemacht"
Warum also schreibt Kafka so dunkel, setzt seine Figuren Situationen aus, die es in der Wirklichkeit zumindest im wortwörtlichen Sinn nicht gibt? Manche seiner Leser haben sich am rätselhaften Charakter gestört. So etwa ein gewisser Dr. Siegfried Wolff, der "Die Verwandlung" unmittelbar nach Erscheinen las - und sich dann hilflos an den Autor, an Kafka, wandte.
"Sehr geehrter Herr", schrieb er ihm, "Sie haben mich unglücklich gemacht. Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären. Meine Kusine hat's ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. (...) Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat."
Die Macht des Textes
Mit dieser rätselhaften Schreibweise hat Kafka es sich vor allem auch selbst schwer gemacht. Denn sie verhinderte, dass er bereits zu Lebzeiten ein von großem Publikum anerkannter Autor wurde. Heute nimmt man an, dass es Kafka vor allem darum ging, die Unruhe seiner Zeit in Worte zu fassen. Er selbst hatte seine literarischen Vorlieben einmal so ausgedrückt: "Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen oder stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?"
Für den an der Universität Marburg lehrenden Germanisten Thomas Anz, der über Kafkas Leben und Werk eine Studie geschrieben hat, ist dieser ein großartiger Dichter der Absurdität. Kafkas verschlossene, rätselhafte Literatur, so meint Anz, sei womöglich die formale Entsprechung all der undurchschaubaren Gerichtsbehörden oder Respektspersonen, denen sich seine Figuren gegenübersähen. Das gelte besonders für staatliche Instanzen, die Kafka in Romanen wie "Der Prozess" oder in noch viel härterer Fassung in der Erzählung "In der Strafkolonie" beschreibt.
Beide Texte erzählen von der Ohnmacht des Einzelnen angesichts anonymer Mächte - eines Zivilgerichts im "Prozess" und eines Militärgerichts in der "Strafkolonie". Beide Gerichte erheben offenbar völlig willkürlich Anschuldigungen, deren jeweilige Gründe dem Angeklagten nicht im Ansatz erkennbar sind. Warum sind die Angeklagten schuldig geworden? Sie wissen es nicht. "Kafkaesk" nennt man diese Situation der Hilflosigkeit, die eine zentrale Erfahrung in modernen Massengesellschaften ist. Und vielleicht hat kein Film sie anschaulicher dargestellt als Charlie Chaplins "Moderne Zeiten". In ihm sieht man den Schauspieler Charlie Chaplin hilflos zwischen gewaltigen, sich drehenden Zahnrädern eingequetscht. Kafka hätte sich mit diesem Bild identifizieren können.
Schrecken der Moderne
In Kafkas Texten, so der Germanist Michael Braun, Leiter des Literaturreferats der Konrad-Adenauer-Stiftung, drücke sich die Nervosität seiner Zeit angesichts der damaligen Modernisierung aus. Das Wachstum der Städte, neue Verkehrsmittel wie die Eisenbahn und vor allem das Auto, neue Produktionstechniken und ein ausufernder Staat - all das war neu und beunruhigte die Menschen. Diese Unruhe, sagt Braun, empfänden die Menschen auch heute noch. "Darum wird Kafka gerne als Prophet in Anspruch genommen: als einer, der nach 1900 vorweggenommen hat, was in der Mitte des letzten Jahrhunderts und danach Realität wurde - also etwa der rundum kontrollierte oder auch der gefolterte Mensch."
Das von Kafka beschriebene Gefühl der Hilflosigkeit hat sich - zumindest teilweise - bis heute erhalten. Paradoxerweise bergen auch Gesellschaften, in denen die Menschen sehr große Freiheiten genießen, einen gewissen Schrecken. Das gelte etwa angesichts des Verlustes von tradierten Autoritäten, sagt Thomas Anz. Das Phänomen, das Kafka immer wieder beschäftigt habe, beunruhige die Menschen auch heute noch. "Autoritäten werden teils als bedrohlich erfahren, teils aber auch verspottet. All dies sorgt für eine gewisse Desorientierung. Das sind Erfahrungen der Moderne, die bis heute anhalten und die ein Autor wie Kafka in glänzender und exemplarischer Weise dargestellt hat."
Lob der Vieldeutigkeit
Für die Vieldeutigkeit, die durch Kafkas Texte schimmert, gebe es noch einen weiteren Grund, erläutert Michael Braun. Als Bürger einer modernen Großstadt wie Prag hatte Kafka mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun. Auch er selbst ging verschiedensten Aufgaben nach: "Kafka war Jude, Kafka war Anwalt, Kafka war Schriftsteller, Kafka kam aus Prag, er war Tscheche und Deutscher. Und in diesem vielfachen Mit- und Durcheinander verschiedener Identitäten denjenigen Kafka zu suchen, der ein klares Wort spricht, wird wohl für immer ein Problem sein." "Allerdings", fügt Braun hinzu: "Genau dieses Problem macht den Reiz von Kafkas Texten aus. Denn wenn es dieses Problem nicht gäbe - worin bestünde dann der Reiz, Kafka zu lesen?"