100 Jahre russische Februarrevolution
23. Februar 2017Das Datum ist nicht zu ignorieren: der 23. Februar, nach julianischem Kalender (8.3. nach gregorianischem). Es zwingt die russische Gesellschaft zu einer Kontaktaufnahme mit einer Vergangenheit, über die zu urteilen vielen schwer fällt. Ein 100-Jahre-Jubiläum löst normalerweise staatliche Großaktivitäten aus. Nicht so die Februarrevolution in Russland. Es gibt Berührungsängste mit der Vergangenheit.
Schon immer war die Rettung des Staates vor der Anarchie ein dominierender Faktor in der russischen Geschichtsbetrachtung, beschreibt Nikolaus Katzer, Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, die auffällige Zurückhaltung im Umgang mit dem runden Jubiläum. Denn anarchisch waren 1917 und die Jahre danach in der Tat.
Schwierige Erinnerung
Zwar hat Präsident Wladimir Putin im Dezember angeordnet, den Jahrestag vorzubereiten und Veranstaltungen zu planen, doch die offizielle Aufforderung kam auffällig spät. Das passt zum mäßigen Erinnerungswert der Februarereignisse. In Putins wieder erstarktem Russland wird der eigene Staat vor 100 Jahren als schwach wahrgenommen. Er entledigte sich damals seines rechtmäßigen Herrschers Nikolaus II., eine Macht war Russland erst wieder unter den Bolschewiki. Warum also an eine Zeit der Schwäche erinnern?
So denken heute viele von Kaliningrad bis Wladiwostok. Getreu der Formel: Alles, was Russland stark, groß und souverän gemacht hat, ist gut - egal ob es die Romanows waren oder Stalin. Revolutionen hingegen, die die staatliche Kontinuität gefährden, sind schlecht. Und: Die meisten Russen wissen gar nichts über die Vorstufe der großen Oktoberrevolution, berichtet Jurij Piwowarow, Historiker an der Lomonossow-Universität in Moskau.
Ausgangslage am Vorabend der Februarrevolution
Die Rückschau leidet an einem Unbehagen über dieses Geschichtskapitel. Denn Russland vor 100 Jahren war am Boden. Die unmittelbaren Ursachen für den Aufstand waren der Erste Weltkrieg, Hunger und die Wirtschaftsmisere. Seit 1915 waren die russischen Truppen auf dem Rückzug. Polen, Litauen und alle Gebiete entlang der Linie von der Düna bis Rumänien waren verloren gegangen.Es war ein Totaleinbruch der gesamten Westfront. Die Moral war auf dem Nullpunkt. Während allein 1916 rund eineinhalb Millionen russische Soldaten desertiert waren, litt die Bevölkerung unter Hunger und Kälte.
Der Winter 1916/17 war ungewöhnlich hart, es fehlten Holz und Kohle. Die Industrie produzierte vorwiegend für die Kriegswirtschaft. Um das zu bezahlen, wurde Geld gedruckt. Die Inflation galoppierte, Ende 1916 hatten sich Arbeit und Güter um durchschnittlich 400 Prozent verteuert. Russland war immer noch zu 85 Prozent ein Agrarland, doch in den wenigen Industriezentren kam es zu Streiks und Radikalisierung. Vor allem in Petrograd, dem späteren Leningrad und heutigem Sankt Petersburg.
"Gebt uns Brot, wir verhungern!"
Schon lange vor dem entscheidenden 23. Februar kam es in den großen Munitionsfabriken zu Arbeitskämpfen. Schon nachts bildeten sich Menschenschlangen vor den Bäckereien. Tausende skandierten "Brot, Brot!" Doch der Zar entschied sich für einen Besuch bei der Truppe.
Vor allem in den Putilow-Werken und in der Ayvas-Fabrik eskalierte die Lage. Es waren vor allem Arbeiterinnen, deren Männer an der Front waren, die zur Tat schritten. Während Polizisten von den Massen entwaffnet und verprügelt wurden, verhielt sich das Militär noch unentschieden. Während der Zar die sofortige Niederschlagung des Aufstandes in Petrograd per Telegramm anordnete und am Folgetag rund 60 Demonstranten im Kugelhagel starben, solidarisierten sich in der Stadt ganze Regimenter mit den Streikenden.
Innerhalb weniger Tage bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. Die Lage war unübersichtlich. Während die zaristische Regierung über Petrograd den Belagerungszustand verhängte, forderte das Militär schon zur Unterstützung der Aufständischen auf. Auch in Moskau folgten Arbeiter und Soldaten dem Beispiel der Petrograder. Bahnhöfe und Telegrafenämter wurden besetzt. Der Zar konnte per Zug nicht mehr von der Front in die Stadt zurückkehren. Abdanken wollte er nicht, doch längst schon wurden Stimmen laut, die seinen Tod forderten.
Mitgetragen wurde der Aufstand in den Städten von einer bürgerlich-liberalen Intelligenzia, die sehr empfänglich war für politische Reform-Ideen. Vor allem Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte und Juristen emanzipierten sich von staatlichen Einschränkungen. Nie zuvor war Russland näher an Westeuropa als damals.
Die Folge: Sieg der Bolschewiki
Dennoch: In völliger Verkennung der Realitäten in den Betrieben, auf den Straßen, in den Städten, telegrafierte Nikolaus II. am 26. Februar an den Duma-Präsidenten, das Parlament aufzulösen. Was die Abgeordneten verweigerten. Nur einen Tag später konstituierte sich ein Duma-Komitee, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Abgeordnete übernahmen Regierungsämter, ein neuer Oberkommandierender wurde ernannt. Das russische Parlament reklamierte die Staatsgeschäfte für sich. Das war, ähnlich wie 1789 in Paris, der eigentliche umstürzlerische Akt. Die Straßenrevolte mündete in eine echte Revolution.
Von besonderer Bedeutung für den Herrschaftswechsel war die zurückhaltende, ja stillschweigende Billigung der Generäle. Das Interesse der Militärs war eindeutig: Für liberale Ideen konnten sie sich nicht erwärmen, ausschlaggebend war allein ihr Interesse an der Verteidigungsfähigkeit des Landes und der Fortführung des Krieges. Die eigentliche politische Entscheidungsschlacht entlud sich erst ein gutes halbes Jahr später in der Oktoberrevolution, in der sich die Bolschewiki durchsetzten. Erst 1922 konnte sich ein neuer Vielvölkerstaat konstituieren - die UdSSR. Zumindest was Größe und Macht betrifft ein Datum, an das sich Russen lieber erinnern, als an die Revolution im Februar.