Deutschland braucht Goethes Faust
Deutschlands Wahlkampf-Motto lautet: "Verweile doch, Du bist so schön." Die Garantin des Verweilens heißt bekanntlich Angela Merkel. "Für ein Deutschland in dem wir gut und gerne leben", so der Werbeslogan der CDU. Übersetzt heißt das: Alles soll so bleiben, wie es nie war.
Entsprechend visionslos wird im Wahlkampf über Kita-Plätze und die Sicherung des Lebensstandards diskutiert. Für die kleine Welt einer modernen Kleinfamilie sind das echte Themen. Aber Politik muss vorausschauen auf die großen Aufgaben des Jahrhunderts.
Arbeit wird Privileg. Was machen wir dann?
Das wirklich Neue in der digitalen Welt wird nicht das selbstfahrende Auto sein, sondern die Abschaffung der Arbeit. Arbeit wird Privileg. Vom Gesundheitswesen, der Landwirtschaft, der industriellen Produktion, dem Militär bis hin zur Forschung und dem Individualunterricht werden immer mehr intelligente Maschinen zum Einsatz kommen. Hurra! Das ist nicht nur Grund zum Feiern, sondern verschafft uns auch die Zeit zum Feiern.
Doch nach dem Feiern kommt bekanntlich der Kater. In Arbeit und Erfolg findet man Lebenssinn. Ohne Arbeit kommt es zum Absturz. Wer bereitet uns darauf vor?
Diese Umwälzung wird auch gewiss keine allgemeine Gleichheit schaffen. Der digitale Kapitalismus wird weiterhin die bereits Wohlhabenden begünstigen. Von globaler Gerechtigkeit sind wir weit entfernt.
Trügerische Sicherheit eines Übergangszeitraums
Deutschlands Wirtschaft profitiert derzeit von einem paradoxen Phänomen: Gerade weil vieles verschlafen wird, sind wir die Nutznießer des globalen Wandels. Denn wir haben festgehalten an vielen Tugenden der vordigitalen Zeit, die anderswo schon über den Haufen geworfen worden sind, aber für einen Übergangszeitraum noch gebraucht werden. Dazu gehören neben den klassischen deutschen Stärken, wie etwa Ingenieurwesen, Handwerk und Logistik auch Kopfarbeit, Planung und Ausbildung. Anderswo wurde schon umgestellt auf digitales Lernen und auf dynamische Karrieren voller Quereinstiege. Doch Deutschland führt in der digitalen Welt bezeichnenderweise nur in zwei Bereichen: im Pornographie-Konsum und in der regulierenden Gesetzgebung.
Zu unserem Glück hinkt die künstliche Intelligenz bisher aber fast allen Erwartungen hinterher. Schwein gehabt! Das paradoxe Hoch Deutschlands scheint das Verweilen zu legitimieren.
Man findet in den Programmen der meisten Parteien denn auch wenige Gedanken zur Zukunft. Statt die Gesellschaft als Ganzes umzustellen, sollen alle besser auf den verschärften Wettbewerb vorbereitet werden. Jeder Einzelne soll die Ausnahme der Umwälzungen sein. Faire Schulen, so die SPD, damit jeder eine Chance hat. Mehr Wettbewerb unter den Universitäten, so die FDP. Selbst beim bedingungslosen Grundeinkommen der Grünen weiß man nicht, ob es nach den Koalitionsverhandlungen das Ende des Sozialstaates einläuten wird und der Einzelne so wieder auf sich selbst verwiesen wird. Fazit querbeet: Jeder Einzelne soll sich weiter als der Auserwählte sehen, als der Harry Potter, der den immer unwahrscheinlicheren Absprung schafft und sinnvolle Arbeit findet. Verweilen wir. Entsprechend wird auch das Scheitern individualisiert.
Die Zukunftsfragen sind ungeklärt
Die großen Fragen bleiben offen: Wie werden wir in Zukunft leben? Als Freizeitmenschen oder als Arbeitgeber der Roboter? Als Träumer oder als Sinnstifter? Als Verteidiger unseres Wohlstandes oder als Mitglieder der globalen Welt?
Für Goethes Faust war Verweilen keine Option:
"Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen..."
Zweihundert Jahre nach Faust erblickt man das Schöne hingegen nur im Bestehenden. Eine Welt jenseits von Angela Merkel traut sich keiner zu denken. Daher wird auch nach der Wahl wirklich alles bleiben, wie es nie war.
Fritz Breithaupt, geboren 1967 in Meersburg am Bodensee, lebt seit seinem Studium in den USA und ist Professor an der Indiana University Bloomington. Forschungsschwerpunkte des Kultur-, Literatur- und Kognitionswissenschaftlers sind Empathie, Narration und die Goethe-Zeit.