"Fukushima ist überall"
15. März 2011Geschätzte 100.000 Menschen sind in Deutschland bisher auf die Straße gegangen, in 400 Städten. In Bonn haben sich die Demonstranten in einer engen hohen Gasse getroffen. Das Bonner "Bündnis gegen Atom" hatte diesen Startpunkt schon öfter gewählt, bisher war das nie ein Problem. An diesem Montagabend (14.03.2011) jedoch schon. Denn die Gasse platzt aus allen Nähten, so viele Menschen drängen hinein.
Hermann, Karin und Horst müssen immer näher zusammen rücken. Etwas verunsichert schauen die drei sich an. "Wir sind zum ersten Mal dabei", erklärt Karin schulterzuckend. "Durch die Katastrophe in Japan sind wir erst so richtig aufgewacht." Ganz spontan seien sie gekommen, erzählt Hermann, während er sein Plakat zurechtbiegt. "Nachdem, was in Japan passiert ist, kann man die Augen nicht einfach weiter verschließen. Man muss auf die Straße gehen", meint auch Horst.
Hermann steht ganz vorne. Mit seinen gut zwei Metern und dem auffälligen schwarzen Hut ragt er aus der Menge heraus. Er blickt sich erstaunt um. Das Ende der Menschenmasse kann er nicht sehen.
Schock, Mitgefühl, Hilflosigkeit
"Die Welt blickt erstarrt, entsetzt, ungläubig auf die Bilder nach Japan. Unser Mitgefühl gilt den Opfern des Infernos." Der Redner vom "Bündnis gegen Atom" spricht aus, was viele denken. Die Dame neben Hermann nickt. "Mein erster Gedanke war: Das ist unvorstellbar. Und jetzt ist es wie eine Apokalypse. Ich habe mir auch im Internet Bilder angeguckt. Da läuft es mir kalt den Rücken herunter."
Karin, Hermanns Freundin, ging es genauso. Aber sie wollte etwas tun. "Zuerst dachte ich auch, da kann man nichts machen. Aber dann habe ich von meinen Freunden von der Demo gehört. Und das ist besser, als zuhause zu sitzen und nichts zu tun. Diese Demo ist ein erster Schritt", findet sie.
Proteste in 400 Städten
Der Tross in Bonn setzt sich in Bewegung. Herren in schicken Anzügen, Damen mit hohen Stiefeln, Studenten mit Rastalocken und Familien mit Kinderwagen - es ist eine bunte Gruppe. Hermann rückt seinen schwarzen Hut zurecht, reckt sein Plakat in den Abendhimmel und lässt sich mittreiben.
Neben ihm läuft eine junge Familie. Der elfjährige Nicolei blickt nach oben. Er versucht zu entziffern, was Hermann auf seinem Plakat stehen hat. Hermann liest es ihm vor. "Wacht endlich auf. Atomkraft vernichtet die Welt!", hat er geschrieben. Etwa einen Meter tiefer zeigt auch Nicolei stolz auf sein gelbes Schild. "Kiel gegen Atomkraft" heißt sein Slogan. Warum Kiel, will Hermann wissen. "In Kiel gibt es auch Atomkraftwerke, glaube ich, und die sollen auch ausgeschaltet werden", grinst Nicolei frech. Dass er dieses Schild gar nicht selbst gebastelt, sondern von den Organisatoren bekommen hat, erwähnt er nicht. Diese hatten nämlich einen ganzen Stapel Schilder dabei. Und so blitzen Plakate mit Städtenamen wie Hamburg, Darmstadt oder Sigmaringen aus der Menschenmasse hervor. Das soll zeigen, dass Menschen in über 400 Städten protestieren.
Das Ziel: Abschalten!
Nicolei lächelt, marschiert und schaut immer wieder nach rechts und links. Denn genau wie Herrmann ist er auch zum ersten Mal auf einer Demo. "Ich finde es auch doof, dass Atomkraftwerke noch laufen. Sie machen alles kaputt, wenn sie explodieren", verkündet Nicolei mit ernster Mine. Seine Mutter mischt sich ein. Sie hofft einfach, dass die Demos Aufmerksamkeit wecken. "Und dass die Regierung anfängt AKWs abzuschalten. Deutschland kann ja damit starten. Man muss das nicht europaweit entscheiden."
Eine Gruppe von Studenten schiebt sich vorbei. Sie tragen ein überdimensionales, weißes Plakat. "Fukushima ist überall" steht darauf. Laut rufen sie "Widerstand! Stoppt Atomkraft in jedem Land!". Die Demo-Neulinge Nicolei und Herrmann wissen nicht so recht, ob sie nun mitbrüllen sollen, während sie sich quer durch die Stände des Wochenmarkts schlängeln. Die Händler blicken neugierig hinter ihren Obstständen hervor. Sie kennen die Anti-Atom-Demos schon. Schließlich gibt es sie schon seit dem letzten Herbst, als die Bundesregierung beschlossen hatte, die AKW-Laufzeiten zu verlängern.
Ein giftgelbes Mahnmal
Kurze Zeit später ist die Demo am Bonner Hauptbahnhof angekommen. Ein fünf Meter hohes giftgelbes Anti-Atom-X leuchtet den Demonstranten entgegen. Diejenigen, die direkt neben dem Redner mit dem Mikrofon stehen, können verstehen, was er sagt. "Der japanische Botschafter ist informiert. Unser Mitgefühl und unsere Solidarität gilt den Menschen in Japan", ruft er. "Wir vereinen uns jetzt in einer Schweigeminute."
Hermann und seine Freunde verstehen ihn leider nicht. Eigentlich kann das schwache Mikrofon kaum einer hören. Trotzdem halten auf einen Schlag 2000 Menschen inne. Es herrscht eine andächtige, nachdenkliche, friedliche Atmosphäre. Manche zünden Kerzen an und stellen sie vor das Anti-Atom-X. Hermann blickt starr gerade aus, unauffällig wischt er sich Tränen aus den Augen. "Meine Schwägerin ist Japanerin", erklärt er bewegt. "Ich will jetzt zeigen, dass ich mit dem Herzen bei ihr und ihrer Familie in Tokio bin."
Hermann will auch in der Zukunft zeigen, dass er gegen Atom ist. Bei den nächsten Demos wird er wieder mit dabei sein.
Autorin: Miriam Klaussner
Redaktion: Kay-Alexander Scholz