Lehren aus der Kölner Silvesternacht
31. Dezember 2020Als Sozialarbeiter hat Franco Clemens vieles erlebt. Aber auf die Silvesternacht vor fünf Jahren war er nicht vorbereitet. Es passierte "ausgerechnet im multikulturellen Köln, einem Schmelztiegel der Integration", wie Clemens in der Rückschau sagt. Dabei beginnt die Nacht zum Jahreswechsel 2015/16 scheinbar harmlos. Am Ende aber wird sie Deutschland verändern.
Wie in früheren Jahren versammelt sich eine Menschenmenge auf dem Bahnhofsvorplatz - direkt neben dem Wahrzeichen Kölns, dem gotischen Dom. Nichts Ungewöhnliches für die Millionenstadt, die als "Feiermetropole" Nordrhein-Westfalens gilt. Doch diesmal bildet sich ein großer Pulk von rund tausend jungen Männern. Überwiegend stammen sie aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum.
Die Stimmung ist enthemmt, aggressiv. Raketen werden auf Menschen gefeuert, Passanten schikaniert, Handys und Geldbörsen gestohlen. Die Polizisten reagieren überrascht und überfordert; zu wenige von ihnen sind vor Ort im Einsatz.
Schon bald eskaliert die Lage vollends. Es kommt zu besonders "widerwärtigen" Szenen, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel sagen wird. Männermeuten machen förmlich Jagd auf Frauen, treiben viele von ihnen in die Enge. Es gibt sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen. Der damalige Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers spricht später von "Straftaten in einer völlig neuen Dimension".
Merkels Willkommenskultur unter Druck
661 Frauen melden sexuelle Straftaten. Insgesamt werden in den nächsten Tagen 1210 Strafanzeigen erstattet, davon 511 wegen sexueller Übergriffe. Bei 28 Anzeigen geht es um versuchte oder vollendete Vergewaltigung. Auch in anderen deutschen Städten wie Hamburg, Frankfurt am Main und Hannover kommt es damals zu ähnlichen, wenngleich nicht dermaßen drastischen Szenen.
Franco Clemens, der in dieser Zeit eine Kölner Flüchtlingsunterkunft leitet, ist entsetzt über das, was den Frauen angetan wurde. Ihn und seine Mitarbeiter treffen die Gewaltexzesse als "Schock, der uns mehr oder weniger den Boden unter den Füßen weggezogen hatte". Clemens sieht die von Merkel geförderte Willkommenskultur für Flüchtlinge auf der Kippe. Ihr legendärer wie polarisierender Aufruf "Wir schaffen das" vom 7. Oktober 2015 bekommt für viele Deutsche endgültig einen schalen Beigeschmack.
Die Kölner Silvesternacht habe "zu einem Paradigmenwechsel in der Gesellschaft" geführt, urteilt Clemens in einem Online-Pressegespräch des Medien-Dienstes Integration zur Bilanzierung der Silvesternacht vor fünf Jahren. "Die Willkommenskultur ist konterkariert worden, indem sie für viele Menschen, die sie in der Breite vorher mitgetragen haben, plötzlich angstbesetzt war", sagt der Streetworker. Damit sei eine Menge an Unterstützung weggefallen. "Bis in die Flüchtlingsheime hinein, wo uns viele Menschen noch geholfen hatten, die Sozialarbeit und die Integration nach vorne zu bringen."
Trumps warnendes Beispiel im Wahlkampf
Weil die Kölner Silvesternacht grundsätzliche gesellschaftspolitische Großbaustellen wie unter einem Brennglas sichtbar macht, löst sie ein weltweites Medienecho aus - ebenso die Reaktionen eines politischen Provokateurs jenseits des Atlantiks. Donald Trump stellt die Übergriffe während seines Wahlkampfs zur US-Präsidentschaft als warnendes Beispiel für eine verfehlte Flüchtlingspolitik dar. Hemmungslos schlachtet sie Trump für seine einwanderungsfeindliche Polemik aus.
In Deutschland selbst ist längst eine Debatte entbrannt: über Probleme der Migrationspolitik und das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft. Bislang unbesorgte Bürger verspüren ein nie gekanntes Sicherheitsbedürfnis. Die Verkäufe von Schreckschusspistolen, Pfefferspray und Reizgas schnellen im Rekordtempo nach oben.
Es gibt einen Profiteur dieser Entwicklung: Der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland, AfD, gelingt es, Vorbehalte, Angst und Wut in Stimmenzuwächse für sich umzumünzen. Bald ist sie die größte Oppositionspartei im Bundestag.
Verschärfung des Asyl- und Sexualstrafrechts
Infolge der Vorfälle verschärfen Bundesregierung und Bundestag das deutsche Asylrecht. So ermöglicht das im März 2016 beschlossene Asylpaket II eine erleichterte, schnellere Ausweisung ausländischer Straftäter.
Das Sexualstrafrecht wird ebenfalls reformiert. "Sexuelle Belästigung war bis dahin kein Straftatbestand", sagt die Pädagogin Behshid Najafi vom Frauenberatungsverein agisra in Köln. Frühere Reformvorschläge zum Sexualstrafrecht seien in den Schubladen der Gesetzgeber verschwunden. Erst aufgrund der Silvesternacht "ist im November 2016 das Sexualstrafrecht reformiert worden. Sexuelle Belästigung wurde mit Paragraf 184i zur Straftat", so Najafi.
Darüber hinaus gilt von nun an das Prinzip "Nein heißt nein": Eine sexuelle Handlung wird auch dann als Vergewaltigung gewertet, wenn sich das Opfer nicht aktiv wehrt. Und: Wenn Sexualstraftaten aus Gruppen heraus begangen werden, sollen dafür alle Teilnehmer der Gruppe belangt werden können.
Auch die Medien ziehen Konsequenzen. Denn ihnen wird ähnlich wie der Polizei vorgeworfen, zu zögerlich über die ausländische Staatsbürgerschaft der Tatverdächtigen informiert zu haben. Der Presserat ändert seine Leitlinien zur Herkunftsnennung von Tätern. Vorher hieß es im Pressekodex, Journalisten sollten ungeachtet der Richtigkeit der Information regelhaft auf die Nennung der Herkunft von Straftätern verzichten. Nun darf die Herkunft ausdrücklich genannt werden, "wenn ein begründetes öffentliches Interesse vorliegt".
Rassismus-Vorwürfe gegen die Polizei
Die Kölner Polizei stellt unterdessen eine "AG Silvester" aus Spezialisten zusammen. Zum Jahreswechsel 2016/2017 schickt sie mehr Polizisten auf die Straße. Als Beamte im Zusammenhang mit Überprüfungen über "Nafris" twittern – als Abkürzung für nordafrikanische Intensivtäter – wird ihnen Racial Profiling vorgeworfen. Eine Häufung an Straftaten von Personen aus dem nordafrikanischen Raum lasse sich nicht bestreiten, rechtfertigt sich die Polizei. Aber die allermeisten in Deutschland lebenden Nordafrikaner seien "natürlich keine Straftäter".
Das Sicherheitskonzept wird erneut überarbeitet, die Ausbildung den Anforderungen angepasst. "Es passiert sehr viel bei der Polizei, wenn ich mir die Handbücher im Ausbildungsbereich anschaue, wenn ich sehe, was wir für interkulturelle Kompetenz, Antidiskriminierung, für Stressbewältigung und Kommunikationstraining tun", sagt der frühere Leiter der AG Silvester, Klaus Zimmermann.
Doch was ist mit der Forderung Merkels, "die Schuldigen so schnell und so vollständig wie möglich zu ermitteln und ohne Ansehen ihrer Herkunft oder ihres Hintergrundes zu bestrafen"?
Mangelnde Beweise wegen tumultartiger Szenen
Den Zahlen nach fällt die "harte" Antwort des Rechtstaates ernüchternd aus: Insgesamt ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft gegen 290 Personen. Es gibt 46 Anklagen. 36 Täter werden verurteilt. Meistens wegen Diebstahls oder ähnlicher Delikte. Lediglich zwei Männer werden der sexuellen Nötigung und Beihilfe zur sexuellen Nötigung überführt: Ein 26-jähriger Algerier und ein 21-jähriger Iraker erhalten jeweils ein Jahr Haft auf Bewährung. Ein drittes Urteil ergeht wegen Beleidigung auf sexueller Grundlage.
Eine frustrierende Verurteilungsquote für den Polizisten Zimmermann: "Wenn wir als ermittelnde Polizei zu dem Ergebnis kommen, dass in einer Vielzahl von Fällen eine Verdachtslage vorliegt, die wir der Staatsanwaltschaft übermitteln. Dann ist es natürlich unbefriedigend, wenn nur in sehr geringen Anteilen eine Verurteilung erfolgt."
Bei tumultartigen Ereignissen wie 2015/2016 ist es allerdings kaum möglich, einzelnen Tätern konkrete Handlungen zuzuordnen. "Wir hatten alle Mittel ausgeschöpft. Wir hatten Funkzellen festgestellt, spezielle Beobachter zur Auswertung von Video-Material eingesetzt, um die Täter wiedererkennen zu können", sagt Zimmermann
Immerhin sorgt das reformierte Sicherheitskonzept der Kölner Polizei nun für weitgehend friedliche Silvesterfeiern am Bahnhofsvorplatz. Am kommenden Jahreswechsel dürfte es in ganz Köln noch ruhiger werden – diesmal wegen der Corona-Beschränkungen.