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PolitikBelgien

Das koloniale Erbe wirkt fort

Alexander Görlach - Carnegie Council for Ethics in International Affairs
Alexander Görlach
21. Juni 2022

Belgien hat ein Jahrhundert gebraucht, um sich seinen Verbrechen in der heutigen Demokratischen Republik Kongo zu stellen. Das Erbe der Kolonialzeit ist auch ein Auftrag für die Zukunft, meint Alexander Görlach.

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Diejenigen, die Joseph Conrads Erzählung "Herz der Finsternis" lesen, spüren einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. Das Buch beschreibt, wie im Kongo während der belgischen Kolonialherrschaft (1885 bis 1908) grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden. Die Raffgier König Leopolds II. nach Kautschuk, einem Katalysator des Industriezeitalters, ließ den christlichen Monarchen alle Werte vergessen: Millionen Menschen wurden verstümmelt und getötet. Heute mag man bei Belgien an einen konfessionell und sprachlich zerklüfteten europäischen Kleinstaat denken - das macht es schwierig, die Bestialität dessen, was damals im Kongo geschehen ist, zu umreißen und zu verstehen.

Nicht zuletzt hat es die Belgier selbst ein knappes Jahrhundert gekostet, bis sie die Kraft gefunden haben, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Aus unserer eigenen, der deutschen Geschichte ist ja bekannt, dass die Nachgeborenen sich wünschen, ihre Vorfahren mögen zu Zeiten Hitlers alle im Widerstand gewesen sein. Die Zahl derer, die von einer standhaften Haltung ihrer Urgroßeltern überzeugt sind, übersteigt die tatsächliche Zahl der gegen den Nationalsozialismus Aufbegehrenden um ein Vielfaches. Damit soll gesagt werden, dass in der westlichen Welt niemand mit dem Finger auf andere zu zeigen hat. Überall wurden fürchterliche Verbrechen begangen. Da man sie nicht miteinander vergleichen kann und darf, mahnen sie die Staaten der freien Welt gleichermaßen, für die Zukunft alles zu tun, um eine Wiederholung von Tyrannei und Völkermord zu verhindern. 

Belgisches Königspaar zu Besuch in der Republik Kongo
Besuch in der DR Kongo: König Philippe von Belgien begrüßt Korporal Albert Kunyuku, den letzten lebenden kongolesischen Veteranen des Zweiten WeltkriegsBild: Benoit Doppagne/BELGA/dpa/picture alliance

Auch nach dem Ende der brutalen Besatzung verblieb der Kongo in der Einflusssphäre Belgiens. Erst in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelang den Staaten in Afrika eine Loslösung von den europäischen Kolonialmächten. In der Hochzeit des Kampfes gegen den Sowjetkommunismus war den Vereinigten Staaten hier - wie auch in Lateinamerika - daran gelegen, dass im Zuge dieser Loslösung nicht die Ideale des Kommunismus Eingang in die neuen Demokratien fanden. Auch Belgien befand, dass so etwas in seinem "Hinterhof" nicht vorkommen dürfe, und machte sich schuldig am Tod von Patrice Lumumba, dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Kongo. Seine Mörder, die die Leiche des Politikers in Säure auflösten, behielten einen Zahn und einen Finger Lumumbas als eine Art Trophäe.

Koloniale Gräuel nicht aufgearbeitet

Belgien hat sich sich, endlich, im Jahr 2020 dazu entschlossen, die Überreste Lumumbas an seine Familie und den Kongo zurückzugeben. Kurz zuvor besuchte außerdem das belgische Königspaar auf Einladung des kongolesischen Präsidenten Felix Tshisekedi das Land, um ein neues Kapitel im Verhältnis der beiden Länder aufzuschlagen. Auch wenn es sich jetzt nur um einen Zahn des Ermordeten handelt, ist es für seine Familie ein Zeichen von Gerechtigkeit, dass sie im Kongo, der geliebten Heimat Lumumbas, beigesetzt werden. Diese verspätete Geste zeigt, dass Verbrechen und Gräuel, auf denen der Wohlstand der europäischen Nationen gründet, längst nicht ausreichend aufgearbeitet sind.

Belgien und Kongo: Zeremonie am Sarg von Patrice Lumumba
Politiker der DR Kongo und Belgiens am Sarg mit den sterblichen Überresten von Patrice Lumumba in BrüsselBild: Olivier Matthys/AP/picture alliance

Stattdessen finden sich in allen Winkeln der Welt Menschen, die sich zu der Aussage versteigen, dass es doch "irgendwann einmal gut sein" müsse mit der Aufarbeitung. Das geschah im Deutschland der Nachkriegszeit. Das findet genauso die Rechte in Japan, die argumentiert, man habe sich für die Verbrechen, die an den Koreanerinnen und Koreanern im Zuge der Besatzung ihres Landes verübt wurden, bereits genug entschuldigt. In den USA, ein Land, in dem nach wie vor Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert, drangsaliert, und auch getötet werden, gibt es ehemalige Plantagen, in denen Führungen für Touristen aus der Perspektive der unterdrückten Sklaven gegeben werden. Reiseführer sagen, dass es auch heute noch Besucherinnen gäbe, die angebliche "Vorzüge" der Sklaverei priesen, wie eine medizinische Versorgung der Versklavten und ihre Bekehrung zum Christentum.

Neue koloniale Gelüste

Diese Beispiele zeigen allesamt, dass die Gesellschaften der heute freien und demokratischen Welt noch eine lange Wegstrecke vor sich haben, bevor so etwas wie eine Gerechtigkeit für das Erlittene bei den Opfern überhaupt in Sichtweite gerät. Es entscheiden eben nicht die Unterdrücker von einst, wann es genug ist mit dem Entschuldigen, sondern die von ihnen Unterdrückten. Es ist auch kein "reverse racism", kein umgekehrter Rassismus, wenn die einst Versklavten den Worten der ehemaligen Unterdrücker nicht sofort und unumschränkt Glauben schenken, skeptisch bleiben und Entschuldigungen und Reparationen fordern. Auch heute noch argumentieren die politisch Verantwortlichen in den ehemaligen Kolonialstaaten von einer Position der Stärke aus. Sie sind weit davon entfernt, selbst Opfer zu werden wie die einst von ihnen Geschundenen.

Angesichts der auch nach hundert Jahren noch nicht aufgearbeiteten Schuld des Kolonialzeitalters muss die Sorge zunehmen angesichts neuer kolonialer Gelüste und Realitäten: Die Führer Russlands und Chinas, Wladimir Putin und Xi Jinping, verfolgen Ideologien, die sich von denen des Kolonialzeitalters nicht unterscheiden. Es ist eine besondere Aufgabe derer, die in der Vergangenheit Schuld auf sich geladen haben, heute mit größter Entschlossenheit gegen den Angriff und die Besatzung souveräner Staaten und ihrer Bevölkerung vorzugehen. Dieser Aspekt muss bei der Antwort auf die Frage, wie viele Waffen man heute an die Ukraine und morgen unter Umständen an Taiwan liefert, unbedingt mit einbezogen werden.

Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Research Associate am Internet Institute der Universität Oxford. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die freie Welt bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und der Universität von Cambridge inne.