1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Ganz normale Männer?

Birgit Goertz16. Januar 2014

Andrej Angrick forscht seit vielen Jahren über die Einsatzgruppen der SS. Im Interview mit der DW versucht der Historiker zu erklären, wie aus vermeintlich normalen Männern Massenmörder wurden.

https://p.dw.com/p/1ArXK
Filmszene "Das radikal Böse" (Foto: W-film)
Bild: W-film/Christoph Rau

Deutsche Welle: Was halten Sie von der Idee, aus der psychologischen und historischen Auseinandersetzung mit den Tätern einen Film zu machen: Darf man das?

Andrej Angrick: Ja, das darf man. Aus meiner Warte gibt es keine Denkverbote. Ich habe den Film noch nicht gesehen. [Das Interview wurde am Tag vor dem Kinostart von "Das radikal Böse" geführt, Anm. d. Verf.] Es gibt eine Reihe von Filmen, in denen dokumentarisches Filmmaterial mit Spielszenen gemischt wird: Es gibt den Film "Hitler. Ein Film aus Deutschland" von Hans-Jürgen Syberberg von 1977, oder "Die Grube" von Karl Fruchtmann von 1995. Oder das Theaterstück "Die Ermittlung" von Peter Weiss, das auf dem Frankfurter Auschwitzprozess von 1963-65 basiert. Es ist kein Stil- oder Tabubruch, wenn man die Herkunft der Zitate kenntlich macht.

Wie kam man zu den Einsatzgruppen? Und was wussten die Männer über ihre anstehenden Aufgaben?

Die Einsatzgruppen waren keine homogenen Verbände, sondern sie waren zusammengesetzt aus verschiedenen Polizeibataillonen. Sie machen ein Drittel der Einsatzgruppen aus, ein weiteres Drittel kommt aus der Waffen-SS, das dritte Drittel sind sogenannte Notdienstverpflichtete, Fahrer und Dienstpersonal, das von der Gestapo ausgewählt wurde. Die Einsatzgruppen gibt es schon vor dem Krieg.

Ohne Voyeurismus: Ruzowitzky stellt das Milgram-Experiment nach Filmszene "Das radikal Böse" (Foto: W-film)
Ohne Voyeurismus: Ruzowitzky stellt das Milgram-Experiment nachBild: W-film/Benedict Neuenfels

Wie mutieren diese "ganz normalen Männer" zu Mördern?

Die ersten Mordbefehle kommen schon vor dem Einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941, nämlich im Zuge des Polenfeldzugs mit Kriegsbeginn 1939. Was aber mit dem Überfall auf die Sowjetunion geschieht, ist folgendes: Die Männer der Einsatzkommandos kommen in Gebiete, die mit dem Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion gefallen sind, zum Beispiel das Baltikum, Galizien oder die Bukowina. Dort treffen sie auf eine Bevölkerung, die unter den Sowjets sehr gelitten hat. Sie hören in der Presse oder dem Rundfunk, dass es Exekutionen von sowjetischer Seite gegeben hat. Nun wendet die NS-Führung einen psychologischen Trick an: Es wird gesagt, man befinde sich in einer gewaltbereiten Gesellschaft. Das ist das, was der einfache Mann mitbekommt. Hinzu kommt die Propaganda vom jüdischen Bolschewismus.

Diese Mischung greift jetzt: Es ergehen Befehle, die Träger der gegnerischen Intelligenz, die Repräsentanten des feindlichen Systems zu verhaften und hinzurichten. Zudem finden die ersten Morde zumeist nach militärischem Ritus fest. Es wird alles so arrangiert wie nach einem Militärgerichtsverfahren. Es wird ein vermeintlich normales Verfahren vorgespielt. Der Chef der SS, Heinrich Himmler, hatte im Dezember 1941 eine Art Rundbefehl erteilt, dass die Schützen der Mordkommandos in Kameradschaftsabenden Ablenkung finden sollten, auf denen möglichst nicht über die Tat gesprochen werden sollte. Die SS agierte aus einer Fürsorgepflicht, um die Schützen psychologisch zu beschützen.

Nach den Anführern des gegnerischen Systems wurden die Opfer jünger: Teenager, aber auch ältere Männer. Schließlich wurden ganze Gemeinden ermordet, auch Frauen und Kinder. Auf Seiten der Schützen griffen Mechanismen des Gruppenzwangs. Die NS-Führung umsorgte die Schützen, versuchte den psychischen Druck von ihnen zu nehmen. Zudem wollte man möglichst alle zum Erschießen heranziehen, um die Last auf möglichst viele Männer zu verteilen.

Familien und sogar ganze Dörfer werden ausgelöscht. Filmszene "Das radikal Böse" (Foto: W-film)
Familien und sogar ganze Dörfer werden ausgelöschtBild: W-film/Benedict Neuenfels

Ruzowitzky legt dar, dass die Männer der Einsatzgruppen ohne Gefahr für Leib und Leben die Teilnahme an den Erschießungskommandos verweigern konnten. Ist das Ihrer Erkenntnis nach richtig?

Ja, das war so. Die einzige Einschränkung gilt der Motivlage. Eine Argumentation aus persönlichen Erwägungen galt als akzeptabel. Etwa: 'Ich bin nicht an die Front gegangen, um Frauen und Kinder zu erschießen, sondern um zu kämpfen.' Eine Argumentation aus ideologischen Erwägungen, wäre für den Mann selbst zum Problem geworden. Wer verweigerte, dem wurden dann andere Aufgaben zugewiesen, er wurde nicht einmal aus dem Mannschaftsverband ausgeschlossen. Die Hauptsache war, dass das Gesamtunternehmen als solches nicht gefährdet war. Es gab auch keine rechtlichen Sanktionen der Nicht-Teilnahme. Im Gegenteil: Es gab sogar die Möglichkeit, sich auf ein Recht zur Befehlsverweigerung zu berufen.

Wie gingen die Männer der Einsatzgruppen nach dem Krieg mit ihrer Schuld um?

In den Nürnberger Prozessen, im Prozess gegen 24 SS-Führer der Einsatzgruppen 1947/48, war Otto Ohlendorf, der Chef der Einsatzgruppe D, einer der drei höchstrangigen Angeklagten. Er war es, der die Verteidigungsstrategie konzipierte, die die anderen Mitangeklagten trugen. Sie erklärten sich alle als nicht schuldig und argumentierten: Sie seien Mandatsträger gewesen und somit nicht persönlich schuldig. Schuld trage der abstrakte Staat. Zudem würden im Krieg andere sittliche Normen gelten als zu Friedenszeiten. Das sei ein Umstand, den alle kriegführenden Seiten akzeptierten. Das heißt: Die Argumentation besteht im Kern in der Ent-Individualisierung der Täter und dem Deklarieren des Krieges als Ausnahmeerscheinung.

Otto Ohlendorf als Angeklagter. Er musste sich 1947/48 verantorten und wurde zum Tod durch den Strang verurteilt
Otto Ohlendorf musste sich 1947/48 verantworten und wurde zum Tod durch den Strang verurteiltBild: picture-alliance/dpa

Der Filmtitel „Das radikal Böse“ bezieht sich auf eine Schrift Immanuel Kants von Ende des 18. Jahrhunderts. Der Philosoph folgert, vereinfacht gesagt: Die Anlage zum Zuwiderhandeln gegen allgemeine sittliche Normen schlummere in einem Jeden. Der berühmte Psychiater Robert Jay Lifton spricht in Ruzowitzkys Film vom "menschlichen Potential" eines Jeden, Böses zu tun. Ist Ihrer Ansicht nach das Böse allzu menschlich?

Wenn wir von "Potential" sprechen, dann möchte ich sagen: potentiell steckt es in fast jedem Menschen. Aber es kommt stark auf die äußeren Rahmenbedingungen an. Meiner Ansicht wären 95 % der Männer der Einsatzgruppen in einer anderen Gesellschaft nicht zu Extremverbrechern geworden. Nun ist "das Böse" nicht nur ein psychologischer Begriff, sondern auch ein religiös besetzter. Doch was kehrt das Böse im Menschen zuvorderst? Im NS-Staat war das eine Glücksverheißung, das germanische Utopia, eine perfekte Gesellschaft. Die Juden wurden getötet, nicht weil sie Juden waren, sondern weil sie und andere NS-Verfolgte in der Gedankenwelt der Nationalsozialisten dem Erreichen eines "arischen Garten Eden" im Wege standen. Der Vernichtungskrieg war ein Krieg für Utopia, am Ende stand ein Heilsversprechen zum Wohl derer, die dazu gehörten.

Was hilft gegen solch verquere Geistesgebilde, gegen Diskriminierung und Genozid? Ist das politische Bildung oder politische Kultur?

Politische Kultur allein hilft nicht. Notwendig sind gebildete Eliten. Sie müssen funktionieren, damit keine Umwälzung von unten in negativer Form erfolgen kann. Wenn die Elite immun ist, Politiker, Juristen, Schauspieler, Ärzte, dann wird die Gesellschaft stabil bleiben. Politische Kultur darf nicht auf einen intellektuellen Zirkel beschränkt bleiben. Und: Eine Revolution kann nur funktionieren, wenn man beides hat: einen Robespierre [ideologischer Vordenker der Französischen Revolution und Verantwortlicher des Terrors, Anm. d. Verf.] und einen Saint-Just [radikaler Vordenker des Terrors, Anm. d. Verf.].

Wichtig ist auch die Strafverfolgung: Der Staat muss Sanktionen nicht nur androhen, sondern auch Grenzen durchsetzen. Grundfalsch ist auch eine zu verständnisvolle Gesprächskultur. Sachverhalte zu verstehen, birgt immer die Gefahr von Exculpation, dem Freisprechen von Schuld und damit auch der Billigung.