Der Osten hat seine Lektion gelernt
Am 1. Mai 2004 wuchs das vom Eisernen Vorhang zerrissene Europa wieder zusammen. Aus Ostblock wurde Westblock: Die baltischen Republiken (Estland, Lettland, Litauen), Slowenien und die heutigen Visegrád-Länder (Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien) sowie im Süden des Kontinents die Inselstaaten Zypern und Malta waren fortan EU-Mitglieder.
Die Union wuchs damit von 15 auf 25 Staaten und zählte 20 Prozent mehr Bürger als zuvor. Die Stimmung war euphorisch und alles schien klar: Die Osteuropäer mussten einfach alles so machen wie die Westeuropäer, dann würde es ihnen bald so gut gehen wie dem Westen. Ein paar Jahre lang ging das auch gut. Schritt für Schritt schloss der Osten zum Westen auf.
Stagnation statt Wirtschaftswunder
Dann aber kam die Wirtschaftskrise 2009, und die Wohlstandsschere zwischen Ost und West öffnete sich wieder. Die Menschen im Osten spürten statt Wirtschaftswunder Stagnation. Anstelle von Wohlstand hatte die Westintegration eine schmale Schicht unverschämt reicher Profiteure und ansonsten existenzielle Unsicherheit gebracht. Die Preise stiegen, die Einkommen aber blieben niedrig. Man wusste nie, wie lange man seinen Job behalten würde, kaum jemand konnte sich noch Urlaubsreisen leisten, zwei volle Einkommen reichten nicht, um eine vierköpfige Familie zu unterhalten. Das im Kommunismus miserable, aber sichere Leben war zum Überlebenskampf geworden. Auf die EU-Euphorie folgte eine große Ernüchterung.
Die Folge war ein Lernprozess: Es war wohl doch nicht die beste Idee, alles genauso zu machen wie im Westen, denn Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht so stabil und ausgereift wie dort. Die Wähler brachten Regierungen an die Macht, die den Westeuropäern Contra gaben. Der Staat griff stärker in die Wirtschaft ein. Westliche Konzerne, die bis dahin hofiert worden waren, wurden mit Sondersteuern zur Kasse gebeten. Die Visegrád-Länder schlossen sich zu einer Art Selbstverteidigungsunion zusammen, um ihre Interessen um Rahmen der EU besser verteidigen zu können. Neue Ideen aus dem Westen wurden skeptisch geprüft und fallweise abgelehnt: Willkommenskultur gegenüber Migranten, Schwächung der Nationalstaaten, immer mehr Macht für EU-Gremien – das ergibt für uns keinen Sinn, sagten die Osteuropäer. Gemeinsame EU-Armee, verantwortungsbewusste Wirtschaftspolitik mit weniger Staatsverschuldung - all das ist hingegen sehr sinnvoll.
Die östlichen EU-Länder sprechen sich ab, um ihre Wirtschaften gegenseitig gezielt zu stärken, statt immer nur nach dem Westen zu blicken. Das Sozialprodukt wächst in der Region seit 2012 fast doppelt so schnell wie im Rest der EU. Endlich steigen auch die Einkommen, teilweise rapide. Alles in allem haben die neuen Mitglieder ihre Lektion gelernt: Wie man im Rahmen der Union geschickt agieren und Koalitionen schmieden muss, um die eigenen Interessen am besten zu fördern.
Nirgendwo ist der Rückhalt für die EU größer
Es ist eine Erfolgsgeschichte, die man in der Alt-EU vor lauter Moralismus oft nicht versteht. Da geht es vorwiegend um teilweise berechtigte Klagen bezüglich mangelnder Rechtsstaatlichkeit und darum, wie autoritär oder undemokratisch und vor allem wie undankbar und europafeindlich die Osteuropäer seien. Die Wahrheit ist: Nirgends ist der Rückhalt für die EU größer, nirgends wollen weniger Bürger, dass ihre Länder aus der EU austreten als im Osten Europas. Die Vertrauenskrise der EU ist eine des Westens und des Südens, nicht des Ostens. Alle Umfragen belegen das.
Osteuropäer sind aufgrund ihrer bitteren historischen Erfahrungen Realisten. Sie haben verstanden, wie die real existierende EU funktioniert, und wie man sich darin mit harten Bandagen behaupten muss, um sich nicht selbst zu verlieren. Selbstbewusst prägen sie den gesamteuropäischen Diskurs mit - es ist auch ihr Europa. Sie haben darin eine Stimme und erheben sie. Die EU ist dadurch vielfältiger geworden. Mit anderen Worten: Es gibt mehr Streit. Aber Streit ist ein probates Mittel, um Lösungen zu finden.
Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent mit Sitz in Budapest für die Tageszeitung "Die Welt" und andere deutschsprachige Medien.