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Was Europa jetzt tun muss

Sigmar Gabriel
Sigmar Gabriel
4. Oktober 2015

Der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel und der ehemalige britische Außenminister David Miliband machen Vorschläge, wie die Flüchtlingskrise gemeinsam gelöst werden kann. Denn alleine schafft es niemand.

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Flüchtlinge gehen auf der griechischen Insel Lesbos an Land (Foto: Reuters/D. Michalakis)
Flüchtlinge gehen auf der griechischen Insel Lesbos an LandBild: Reuters/D. Michalakis

Vier Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs können europäische und amerikanische Politiker die dramatische Flüchtlingskrise nicht länger ignorieren. Die US-Regierung ist zwar mehr als aktiv im Nahen Osten, hält es aber für bequemer, die syrischen Flüchtlinge als europäisches Problem einzustufen. Und Europas Reaktion ist bisher weit entfernt vom Ideal einer Union, die auf Werten wie Respekt vor der Menschenwürde und dem Schutz der Menschenrechte beruht. Das muss sich ändern.

Das Problem an der Wurzel packen

"In Aleppo sind wir schon tot", sagte ein Syrer vor kurzem, als er auf der griechischen Insel Lesbos ankam und gefragt wurde, warum er die gefährliche Reise von der Türkei über das Mittelmeer angetreten habe. Hundertausende Syrer fliehen aus den gleichen Gründen nach Europa. Damit steht ihr Gesuch um Schutz wegen "gut begründeter Angst vor Verfolgung", wie es in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 heißt, auf sicheren Füßen. Das Deprimierende dabei ist, dass die syrischen Flüchtlinge nur ein Bruchteil jener 20 Millionen Menschen sind, die in andere Staaten und der 40 Millionen, die innerhalb ihrer Heimatländer vor Krieg und Verfolgung geflohen sind. Das sind die höchsten Zahlen, die das UN-Flüchtlingshilfswerk je registriert hat.

Die Ursachen für diese Tragödie müssen an der Wurzel angegangen werden. Der Europäischen Union steht ein einzigartiges Instrumentarium von diplomatischen, politischen und entwicklungstechnischen Möglichkeiten zur Verfügung. Die Regierungschefs der EU müssen dieses nutzen, um erstarrte Friedensprozesse wiederzubeleben. Sie müssen das notwendige diplomatische Kapital aufwenden, um die Gewalt zu stoppen, die jeden Tag 42.500 Menschen zur Flucht zwingt.

Aber die seit Jahrzehnten bestehenden Krisen in Afghanistan, Somalia und anderen Ländern werden sich nicht über Nacht lösen lassen. Und es wird Jahre dauern, bis die Menschen, die aus Syrien geflohen sind, überhaupt daran denken können, wieder nach Hause zurückzukehren. Deswegen ist es unerlässlich, die Sofort- wie auch die langfristige Entwicklungshilfe deutlich zu erhöhen: Hilfen sowohl für die Menschen, die geflohen sind, als auch für die Länder, die sie aufnehmen.

Syriens Nachbarn muss geholfen werden

Syrien ist die größte und am stärksten blutende Wunde. Nachbarstaaten wie Jordanien und der Libanon brauchen direkte finanzielle Unterstützung und Entwicklungshilfe: um ihre Infrastruktur auszubauen, ihren öffentlichen Dienst von Grund auf zu erneuern, um Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Syrer in den Gemeinden zu schaffen, in denen sie untergekommen sind. Die Wirtschaft und Infrastruktur Jordaniens, des Libanons, der Türkei und des Iraks brechen unter der Last von mehr als vier Millionen Flüchtlingen zusammen. Allein Jordanien rechnet für die Aufnahme der Syrer mit Kosten von 4,2 Milliarden Dollar bis 2016.

Investitionen der Weltbank und anderer internationaler Geldinstitute sind unerlässlich, wenn sich die Wirtschaft dieser Länder wieder erholen soll. Und es ist zwingend notwendig, die Länder der Region zu stabilisieren, um weitere hunderttausende Verzweifelte davon abzuhalten, den tödlichen Weg über das Mittelmeer zu wählen.

Eine Aufgabe ist sogar noch dringender: Die Spendenziele der UN für Syrien und die umliegende Region sind erst zu 31 und zu 40 Prozent erreicht. Deswegen ist die Versorgung der Flüchtlinge mit Lebensmitteln und grundlegenden Medikamenten gefährdet. Wir brauchen schnellstens eine gemeinsame Spendeninitiative der Europäer, der Amerikaner und der arabischen Staaten, um die Institutionen zu finanzieren, die Hilfe vor Ort leisten. Darüber hinaus muss die Maschinerie internationaler Geber-Konferenzen in Gang kommen, um die ambitionierten Wiederaufbau- und Investment-Pläne in der Region zu unterstützen.

Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel (Foto: imago/IPON)
Sigmar GabrielBild: imago/IPON

Sichere Wege nach Europa öffnen

Ergänzend hierzu müssen wir dafür sorgen, dass Flüchtlinge auf sicheren, legalen Wegen nach Europa und in andere Industriestaaten wie die USA und Kanada kommen können. Umsiedlungsprogramme, feste Kontingente, Familienzusammenführung und andere Möglichkeiten würden denjenigen, die auf der Flucht sind, das Schicksal ersparen, von Schleppern ausgenutzt, erpresst, gefoltert oder sexuell missbraucht zu werden.

Einige Länder haben echte humanitäre Führungsqualitäten bewiesen, indem sie zugesagt haben, eine große Anzahl von Flüchtlingen langfristig aufzunehmen. An einem einzigen Wochenende im September sind in Deutschland mehr Flüchtlinge angekommen als Großbritannien über die nächsten fünf Jahre langfristig bei sich aufnehmen will. Wir brauchen eine viel koordiniertere und fairere Herangehensweise von Europas Regierungschefs.

Um die Krise effektiv zu bewältigen, müssen wir auch das Schicksal derjenigen in den Blick nehmen, die bereits in Europa angekommen sind. Auch hier gibt es mehrere Dinge, die die EU-Mitgliedsstaaten schnellstens tun sollten.

Als Erstes muss sichergestellt werden, dass Flüchtlinge, die in Europa ankommen, mit Menschlichkeit und Würde empfangen werden. Die EU muss die nötige finanzielle und technische Unterstützung bereitstellen, um eine effektive und gut koordinierte humanitäre Operation an der EU-Außengrenze im südlichen Mittelmeer zu starten. Das heißt, dass traumatisierte Ankömmlinge Essen, Wasser und medizinische Hilfe bekommen. Dass sie sicher untergebracht werden und gleich nach ihrer Ankunft Zugang zu sanitären Anlagen erhalten, anstatt mit den armseligen und schmutzigen Bedingungen vorlieb nehmen zu müssen, die sie jetzt vorfinden.

Früherer britischer Außenminister David Miliband (Foto: AP Photo/Mikhail Metzel)
David MilibandBild: AP

Geteilte Verantwortung, allgemeingültige Standards

Zweitens müssen die EU-Mitgliedsstaaten aufhören, so zu tun, als sei die Flüchtlingskrise am Mittelmeer das alleinige Problem der Länder an Europas Küste. Fast 245.000 Flüchtlinge sind bisher dieses Jahr in Griechenland angekommen und noch einmal 200.000 werden bis Weihnachten erwartet. Aber bisher haben sich die Mitgliedsstaaten nur darauf geeinigt, gerade einmal 120.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien in andere Länder zu verteilen. Das muss sich ändern. Der Juncker-Plan ist ein Einstieg in ernsthafte Umverteilungsquoten. Er verdient unsere Unterstützung.

Der dritte Schritt ist, eine faire, umfassende und gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik einzuführen, die sicherstellt, dass alle Asylanträge nach internationalen Standards bearbeitet werden und dass die Verantwortung, Flüchtlinge aufzunehmen, zwischen allen EU-Mitgliedsstaaten aufgeteilt wird. Der Juncker-Plan betont zu Recht auch, dass diejenigen, die kein Recht auf Asyl haben, zurückgeschickt werden sollten.

Jetzt ist die Zeit für Solidarität

Kein Land kann eine Krise dieser Größenordnung alleine lösen. Selbst Europa kann das beim besten Willen dieser Welt nicht. Eine globale Krise verlangt nach einer globalen Antwort. Aber Europa wird die USA, die Golfstaaten und andere Regierungen, die sich noch nicht engagiert haben, sehr viel besser überzeugen können, ebenfalls einen Beitrag zu leisten, wenn es das eigene Handeln der Größe des Problems anpasst.

Es ist auch eine Gelegenheit, das Ideal menschlicher Solidarität wirklich zu leben. Europas Politiker sollten nach Lesbos schauen, wo in diesen Tagen Anwohner Flüchtlinge mit Essen, Decken und Medikamenten versorgen. Unter den Freiwilligen sind auch Inselbewohner, deren Großeltern dem Gemetzel und Chaos des Zweiten Weltkriegs entkommen sind, indem sie nach Syrien flüchteten, wo ihnen ein sicheres Zuhause geboten wurde. Diesem Vorbild sollten wir nacheifern.

Sigmar Gabriel ist Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, Bundeswirtschaftsminister und Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD)

David Miliband war von 2007 bis 2010 Außenminister von Großbritannien. Er ist heute Vorsitzender der Hilfsorganisation International Rescue Committee mit Sitz in New York.

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