"Wir brauchen gute Anführer"
23. November 2012
DW: Assaf Gavron, der Konflikt im Nahen Osten hat eine solch lange Geschichte. Wie lebt man damit eigentlich? Ist er fester Bestandteil des täglichen Lebens?
Assaf Gavron: Ja, im Grunde schon. Er ist immer präsent, aber wie stark - das entscheidet man selbst. An den Tagen, an denen die Raketen fliegen, kann man dem Konflikt natürlich nicht entkommen. Aber in Zeiten, in denen es friedlicher ist, kann man in den meisten Regionen in Israel fast genauso leben wie in Deutschland. Man geht zur Arbeit, trifft Freunde, geht aus… Vor allen Dingen in Tel Aviv hat der Konflikt nicht unbedingt einen großen Teil des Lebens ausgemacht, wenn man das nicht wollte. Trotzdem war er natürlich da. Für mich als Autor, der über den Konflikt schreibt, ist das ein bisschen anders. Aber alles in allem bin auch ich meinem Alltag stets nachgegangen: arbeiten, die Kinder vom Kindergarten abholen und so weiter.
Sprechen die Menschen denn viel darüber?
Das hängt davon ab: In den letzten Tagen war es natürlich überall Thema, egal wo man hinging: im Supermarkt, in der Kneipe, im Fernsehen. Aber in anderen Zeiten, also sagen wir mal vor einem Monat oder zwei, da wurde darüber nicht viel diskutiert - und das, obwohl wir gerade Wahlkampf haben. Man sollte meinen, dass das Thema dann aufkommt, wenn die Parteien einem sagen was sie denken und warum man sie wählen sollte. Aber es wurde überhaupt nicht thematisiert. Niemand wollte darüber sprechen.
Was meinen Sie, woran das liegt?
Die meisten haben Angst, es anzusprechen. Es war eine ganze Zeit lang ruhig hier. Präsident Benjamin Netanjahu hat den Iran zum Hauptthema gemacht: die Drohungen und dass wir Opfer seien und so weiter. Und die anderen Parteien wissen, dass die Leute über den Konflikt mit den Palästinensern nicht sprechen wollen. Darum thematisieren sie lieber soziale Angelegenheiten oder Wirtschaftsfragen. Jetzt im Moment ist es natürlich anders. Aber wenn Sie nach den letzten vier Jahren fragen, also die Zeit seit der letzten Wahl, da wollten die meisten Leute nichts davon hören.
Haben denn die Zeitungen nicht darüber berichtet?
Nein. Da kam das Thema Palästinenser eigentlich nie vor. Es gibt eine Zeitung, die "Haaretz", die zwei Reporter hat, die regelmäßig aus den palästinensischen Gebieten berichten. Aber in den großen Tageszeitungen konnte man eigentlich nie etwas darüber lesen.
Als zuletzt die Raketen auf Tel Aviv fielen - wie haben Sie das eigentlich Ihren Kindern erklärt?
Meine ältere Tochter ist fünfeinhalb. Ich habe ihr erzählt, dass Raketen auf uns abgefeuert werden und dass sie, wenn sie die Sirenen hört, Zuflucht suchen muss. Es ist schwierig, es zu erklären. Als sie fragte warum, habe ihr ich gesagt, dass es da Leute gibt, die böse auf uns sind, weil wir sie verletzt haben. Und wir wiederum sind böse, weil sie uns verletzt haben und so weiter. Sie hat es so hingenommen, wie Kinder das nun einmal tun. Mir als Erwachsenem kam es völlig surreal vor, dass mitten am Tag plötzlich Raketen auf die Stadt zusteuern und man sich in Sicherheit bringen muss. Aber für die Kinder ist es so, wie es ist. Sie kennen es nicht anders. Das ist traurig, aber wahr.
Glauben Sie noch an eine Lösung des Konflikts?
Ich weiß es nicht, es ist schwierig zu sagen. Jedes Mal, wenn wir eine Chance haben, vertun wir sie wieder. Und die nächste Generation wächst genau da rein. Es verändert sich eigentlich nichts. Vielleicht brauchen wir jemand ganz besonderen, der es schafft, genug Leute hinter sich zu versammeln. Die meisten Leute wollen einfach nur friedlich leben. Ich glaube, was wir brauchen sind großartige Anführer - und das auf beiden Seiten. Und das sehe ich im Moment ehrlich gesagt nicht. Im Gegenteil, wir haben immer schlechtere Anführer.
Sie haben letztens in einem Interview gesagt, dass die politische Perspektive zwar nicht besonders positiv sei, aber dass es trotzdem kleine Schritte gebe, die wenigstens die Atmosphäre etwas verbessern. Was meinten Sie damit?
Es gibt eine ganze Reihe von Kooperationen auf der kulturellen Ebene, zum Beispiel die Projekte des Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim, die die Kontakte zwischen Israelis und Palästinensern fördern. Oder es gibt Wirtschaftskooperationen, zum Beispiel mit Olivenöl-Firmen. Im vergangen Monat war gerade die Ernte, da sind Israelis in die palästinensischen Gebiet gefahren, um den Palästinensern zu helfen, die Probleme mit den Siedlern und der Armee haben. Es gibt zudem jede Woche friedliche, gemeinsame Proteste von Israelis und Palästinensern gegen die Mauer, die Israel von den palästinensischen Gebieten trennt. Aber diese Leute repräsentieren nur einen minimalen Anteil an der Bevölkerung. Die große Mehrheit hat Angst - auf beiden Seiten.
In Ihren Büchern thematisieren Sie den Konflikt. Haben Sie eine Mission, wenn Sie schreiben?
Nein. Ich schreibe über Dinge, weil sie mich interessieren. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist in literarischer Hinsicht sehr faszinierend, voller Absurditäten und Themen, die es zu entdecken gilt. Das interessiert mich. Aber ich sehe mich nicht als Erzieher. Wenn jemand ein Buch von mir liest und etwas daraus lernt, vielleicht sogar seine Meinung über bestimmte Dinge ändert, dann freue ich mich. Aber ich habe beim Schreiben keine Mission.
Assaf Gavron (geboren 1968 in Jerusalem) ist Schriftsteller, Übersetzer und Musiker und einer der erfolgreichsten Autoren Israels. Er lebt mit seiner Familie in Tel Aviv. Sein Roman "Ein schönes Attentat" war in diesem Jahr - zusammen mit dem Buch "Thymian und Steine" der palästinensischen Autorin und Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser - "Buch für die Stadt" in Köln. Sein nächster Roman, der von den israelischen Siedlungen im Westjordanland handelt, erscheint im Januar 2013 - zunächst auf Hebräisch, im Herbst dann auch auf Deutsch.