Generationenaufgabe Extremismusprävention
2. November 2016Safia S. war 15 Jahre alt, als sie in Hannover einem Polizisten ein Messer in den Hals stieß - eine "Märtyrertat", ausgeübt im Namen des sogenannten "Islamischen Staates" (IS). Das war im Februar; seit Mitte Oktober steht die Gymnasiastin vor Gericht. Fälle wie dieser haben das Stichwort Radikalisierungsprävention ganz oben auf die Tagesordnung geschoben - genauso, wie die in den vergangenen Jahren knapp 1000 in den vermeintlichen Dschihad zum IS ausgereisten jungen Männer und Frauen. Als Partner in der Prävention bieten sich immer wieder Islamverbände und Moscheegemeinden an. Das ist gut fürs Image des Islams und: es winken staatliche Zuschüsse. Aber: Es muss genau hingesehen werden, wen man autorisiert als Partner der Kommune, des Staates. Das forderte die Islamexpertin Susanne Schröter im DW-Gespräch am Rande einer Fachtagung Ende Oktober in Frankfurt.
Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft
Die Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI) kritisierte, in der Vergangenheit habe man "öfter den Bock zum Gärtner gemacht und Gemeinschaften als Kooperationspartner ins Boot geholt, die doch sehr zweifelhaft sind hinsichtlich ihrer Ideologien". Beim Blick auf deren Webseiten sei man teilweise entsetzt, wem man da Geld gegeben habe für Präventions- und Jugendarbeit. Ein Negativbeispiel ist für Schröter der "Deutsch-Islamische Vereinsverband Rhein-Main" (DIV). Das Bundesfamilienministerium hatte den Verband mit seinen mehr als 40 Mitgliedsvereinen ins Bundesprogramm "Demokratie leben" aufgenommen. Im Sommer aber wurde die staatliche Förderung gestoppt. Mittlerweile wird der Verband vom hessischen Verfassungsschutz beobachtet. Das hessische Innenministerium stuft rund ein Drittel der Mitgliedsvereine als "extremistisch oder extremistisch beeinflusst" ein.
Bei der Fachtagung "Muslimische Jugend zwischen Integration, Abschottung und neuen Wegen" berichtete die gelernte Ethnologin Schröter auch von ihrer mehrjährigen Feldforschung in Wiesbadener Moscheegemeinden. Dort betreibe jede einzelne Gemeinde Jugendarbeit - allerdings von sehr unterschiedlicher Qualität. Zwar gebe es auch vorbildliche Jugendarbeit, bei der die Moscheen die Öffnung suchen und mit anderen Jugendeinrichtungen zusammenarbeiten. Aber: In allen Moscheegemeinden werden Jungen und Mädchen getrennt betreut. Und mehrheitlich hat Schröter beobachtet, dass die Jugendarbeit in den Moscheen eher auf die Trennung von der Mehrheitsgesellschaft abzielt: "Man möchte die Jugend unter den Fittichen behalten. Man möchte nicht, dass sie von der deutschen Gesellschaft verdorben werden, dass sie nicht mehr den Regeln folgen in Bezug auf Geschlechtertrennung, in Bezug auf Keuschheit." Mit der Folge, dass die Jugendlichen nicht besonders gut gerüstet sind für unsere Gesellschaft, wie Islamexpertin Schröter findet.
Das Thema Jugendarbeit der islamischen Gemeinden ist auch deshalb so wichtig weil die muslimische Bevölkerung in Deutschland deutlich jünger ist als die Gesamtbevölkerung: Der Altersdurchschnitt der rund vier Millionen Muslime in Deutschland liege bei 30 Jahren, erläuterte Hussein Hamdam von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung liege dagegen bei 46 Jahren. Dazu kommt, dass für Jugendliche aus muslimisch geprägten Elternhäusern inzwischen Religion eine deutlich größere Rolle spielt als für die Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft. "Religionszugehörigkeit als Identitätsmarker ist heute sehr stark und hat die ethnischen Identitäten vollkommen in den Hintergrund gedrängt", stellt Schröter fest. Die FFGI-Chefin ergänzt, die Orientierung an religiösen Vorgaben und Regeln werde immer stärker: "Nicht umsonst sind junge Muslime tagtäglich damit beschäftigt sich zu überlegen, ob das was sie gerade tun wollen, erlaubt ist oder verboten, haram oder halal."
Salafisten die besseren Sozialarbeiter?
Ahmad Mansour, Autor des Buches "Generation Allah", bestätigt in seinem Vortrag: Die Worte "haram" und "halal" seien heute auf vielen Schulhöfen die meistverwendeten Begriffe. Im DW-Interview differenziert der Berliner Psychologe: "Es gibt die Gruppe, die zu dieser Gesellschaft gehört und vollkommen unauffällig ist, deren Leben auf der Basis der Demokratie steht. Es gibt aber eine Gruppe von Menschen, die die Religion als das einzige identitätsstiftende Merkmal erlebt, daraus eine Ideologie macht und sehr problematische Werte in sich trägt."
Politiker und Sicherheitsbehörden würden unter "radikal" diejenigen verstehen, die eine Bombe zünden wollten, sagt Mansour. Er will aber tiefer gehen: "Jugendliche, die diese Gesellschaft abwerten, die hier leben, aber ganz andere Werte, ganz andere Ideologien in sich tragen, sind für mich schon eine Art von Risiko. Das bedeutet nicht, dass der Verfassungsschutz verantwortlich ist. Das bedeutet nicht, dass wir diese Leute einsperren sollten. Sondern wir müssen um diese Jugendlichen kämpfen. Wir müssen diese Jugendlichen gewinnen. Das ist der Pool, aus dem die Radikalen ihre zukünftigen Mitglieder fischen können." Leider aber, sagt Mansour, seien die Salafisten oft die besseren Sozialarbeiter.
Muslimische Pfadfinder
Nach Ansicht Mansours ist Radikalisierungsprävention eine Generationenaufgabe, die einen langen Atem brauche. Eine besondere Aufgabe komme dabei der Schule zu. Lehrer müssten nicht allein Werte vermitteln, kritisches Denken fördern und auch manchmal gegen patriarchalische Eltern arbeiten. Sie müssten vor allem in der Lage sein, radikale Tendenzen zu erkennen, fordert Mansour.
Dass nicht alles schlecht ist in der muslimischen Jugendarbeit demonstrierte bei der Fachtagung eine Gruppe vom Bund Muslimischer Pfadfinderinnen und Pfadfinder Deutschlands. Da standen Jungen und Mädchen gemeinsam auf der Bühne, einen Bundesadler vor sich haltend. Seit sechs Jahren gibt es diesen Pfadfinderbund, der zum Beispiel gemeinsame Zeltlager mit christlichen Pfadfindern organisiert. Mit rund 300 Mitgliedern ist er noch recht klein. Aber das Interesse ist enorm. So sehr, dass Interessenten erstmal auf eine Warteliste kommen.