Wasserkraft gefährdet Georgiens Störe
16. August 2021Schon als Kind hat Genadi Kaladze am Unterlauf des Rioni gefischt. Der Fluss schlängelt sich hier dicht vorbei an Akhalsopeli, dem Heimatdorf des heute 70-Jährigen. Es liegt im westlichen Tiefland Georgiens. Rund 80 Kilometer weiter mündet der Rioni ins Schwarze Meer.
Im vergangenen August ging Kaladze ein vier Kilo schwerer Stör an den Haken. Statt ihn jedoch mit nach Haus zu nehmen, zuzubereiten und zu essen, fotografiert er den Fisch und setzte das Tier wieder in den Fluss.
Kaladze macht mit beim ersten Überwachungs- und Schutzprogramm für Georgiens Störe. Es wurde 2017 von der Naturschutzorganisation Fauna und Flora International (FFI) aufgelegt. Mithilfe von Kaladzes Aufnahmen konnte die Organisation seinen Fang als russischen Stör identifizieren.
"Als mein Großvater noch lebte, gab es hier viele Störe. Heute sind sie selten geworden", erzählt Kaladze. Damals habe es Störe bis nach Kutaisi gegeben. Die zweitgrößte Stadt Georgiens liegt rund 30 Kilometer flussaufwärts. Heute jedoch versperrt ein Damm den Fischen den Weg.
Störe hatten es von je her nicht leicht. Denn ihre Eier, auch Rogen genannt, gehören als Kaviar zu den teuersten Delikatessen der Welt. Deshalb gelten die Stör-Bestände als extrem überfischt. Heute jedoch gibt es laut Naturschützer eine noch größere Bedrohung: Wasserkraftwerke.
Dramatisch schrumpfender Lebensraum
Um ihre Eier abzulegen, schwimmen Störe flussaufwärts. In Europa, Asien und Nordamerika verhindern jedoch immer mehr Staudämme diesen natürlichen Zyklus. Weltweit ist die Störpopulation deshalb eingebrochen. 2010 erklärte die Umweltschutzorganisation International Union for Conservation of Nature den Stör zum Tier, das "mehr als jede andere Art vom Aussterben bedroht" ist.
Der letzte Staudamm am Rioni wurde 1987 fertiggestellt. Seitdem versperrt er den Stören den Zugang zu 80 Prozent ihrer ehemaligen Laichgebiete im Fluss. Dieser Staudamm liegt einige dutzend Kilometer oberhalb von Kaladzes Heimatdorf. Als Georgien Teil der Sowjetunion war, wurden zahlreiche solcher Dämme errichtet.
Dennoch ist der Rioni einer von nur zwei Flüssen in ganz Europa, in denen sich verschiedene Arten vom Aussterben bedrohter Störe noch fortpflanzen. So galt noch im vergangenen Jahr der Glatt-Stör in der Schwarzmeerregion als ausgestorben, bis Fischer acht Jungtiere im Rioni fingen. In jüngster Zeit wurden auch verschiedene andere Störarten nachgewiesen: der Beluga-Stör, der Scherg, der Sternhausen sowie russische Störe.
"Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine so große Vielfalt von Stören", sagt Fleur Scheele, Leiterin des Kaukasus-Programms bei FFI.
Staudämme verhindern Wanderung der Störe
Doch dieseOase der Artenvielfalt ist bedroht. Für rund 800 Millionen Dollar soll hier das Namakhvani-Wasserkraftwerk gebaut werden - mit einer Gesamtkapazität von 433 Megawatt. Dafür sind am Rioni zwei neue Staudämme geplant, der eine soll 105 Meter hoch, der andere 59 Meter hoch werden.
Für die Störe ist das ein Problem. Denn die Fische orientieren sich bei ihren Wanderungen an den Wasser- und Temperaturschwankungen zu den unterschiedlichen Jahreszeiten. Für gewöhnlich machen sie sich im Frühjahr auf den Weg, wenn durch die Schneeschmelze das Wasser steigt. Dämme jedoch verändern diese natürliche Strömung und damit auch die Wassermenge im Fluss. Das bringe die Fische durcheinander, erklärt Scheele. Außerdem verhindern Staudämme, dass Nährstoffe zufließen, die die jungen Störe, aber auch andere Flussbewohner, brauchen.
Nach Angaben der World Sturgeon Conservation Society (WSCS), einer Organisation zum weltweiten Schutz der Störe mit Sitz in Deutschland, haben große Wasserkraftprojekte bereits zum regionalen Aussterben der Störe in mehreren Flüssen in der Türkei, Italien und Teilen Osteuropas geführt.
Das geplante Namakhvani-Wasserkraftwerk könnte nun auch das Schicksal des Rioni-Störs besiegeln.
Proteste gegen das Wasserkraftwerk
Auch für die Menschen rund um den Fluss ist das Bauprojekt eine Katastrophe. Denn durch die Dämme würden drei Bergdörfer geflutet - Heimat von fast 300 Familien. Einige von ihnen wollen weder eine Entschädigung, noch umgesiedelt werden. Sie fordern, dass das Projekt eingestellt wird und verweisen darauf, dass weder angemessene Sozial- noch Umweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt worden seien.
Demnach fehlen bislang auch seismologische Studien, die die Sicherheit der Dämme im Vorfeld untersuchen. Der Rioni fließt durch erdbebengefährdete Regionen - im Falle eines Bebens, so die Befürchtung, könnten die Dämme brechen und Überschwemmungen auslösen. Davon betroffen wären auch die rund 150.000 Einwohner von Kutaisi.
Nach Demonstrationen dort und in der georgischen Hauptstadt Tiflis willigte die Regierung einem zwölfmonatigen Moratorium, also einem Aufschub des Baus, zu. In dieser Zeit will man mit den Projektgegnern ins Gespräch kommen, die EU soll vermitteln.
Erneuerbare Energie - nicht immer nachhaltig
Die georgische Regierung beharrt auf dem Namakhvani-Wasserkraftwerk. Es sei wichtig für die Energiesicherheit Georgiens. Umweltschützer sehen das anders. Sie wollen weitere Wasserkraftwerke im Land verhindern.
Die ersten Anlagen wurden in Georgien in den 1920-er Jahren gebaut. Heute kommen 80 Prozent des im Land produzierten Stroms aus Wasserkraftwerken. Damit ist Georgien weit weniger von klimaschädlichen fossilen Brennstoffen abhängig als andere Länder wie Polen oder auch Deutschland.
Dato Chipashvili von Green Alternative, einer Umweltorganisation aus Tiflis, glaubt nicht, dass weitere Wasserkraftwerke ein geeignetes Mittel sind, um gegen den fortschreitenden Klimawandel anzugehen. Zu groß seien die Risiken für die biologische Vielfalt in den Gebieten um die Wasserkraftwerke. Chipashvili fordert, dass Georgien seine Energieversorgung breiter aufstellt. Da die Wasserkraft bislang die erneuerbaren Energieträger im Land dominiert, seien andere grüne Energiequellen kaum ausgebaut worden.
So gibt es bisher nur einen Windpark mit einer Leistung von 21 Megawatt, gebaut im Jahr 2016. Gleichzeitig sieht Georgiens Aktionsplan für erneuerbare Energien Potenzial für Windkraftanlagen mit einer Gesamtkapazität in Höhe von 1500 Megawatt. Zum Vergleich: Seit 2008 wurden allein 187 Absichtserklärungen für Wasserkraftwerke unterzeichnet.
Laut Chipaschwili werden Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) für solche Projekte in der Regel erst durchgeführt, wenn die entsprechenden Verträge dazu längst in trockenen Tüchern sind. Diese Prüfungen sollen Bauten wie Wasserkraftwerke dann eher nachträglich rechtfertigen als deren Machbarkeit im Vorfeld objektiv zu bewerten.
Im Fall des geplanten Namakhvani-Kraftwerks wurde der Vertrag mit Enka Renewables sieben Monate vor der Einreichung der Umweltverträglichkeitsprüfung durch das Unternehmen unterzeichnet.
Gibt es noch Hoffnung für den Stör?
Der zwölfmonatige Baustopp wurde vor allem verhängt, weil die betroffenen Anwohner protestierten und sich in ihren Rechten beschnitten sahen. Die negativen Auswirkungen des Wasserkraftwerkes auf die biologische Vielfalt spielte bei der Entscheidung keine Rolle.
Naturschützer fordern von der Regierung, auch die Störe zu berücksichtigen und mit "äußerster Vorsicht" vorzugehen, wie es der WSCS formuliert. In einem offenen Brief an die Regierung erinnern die Naturschützer an die Verpflichtungen aus der Berner Konvention. Das ist das Übereinkommen zur Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume aus dem Jahr 1979. Außerdem verweisen sie auf den Aktionsplan zum Schutz und dem Wiederaufbau der europäischen Störpopulation und den gesamteuropäischen Aktionsplan für Störe.
Diese Verträge verpflichten Georgien dazu, die Lebensräume gefährdeter Wildtiere wie Störe in Flüssen, in denen sie sich noch aktiv fortpflanzen, zu schützen und wiederherzustellen. Für die Störe ist der Rioni überlebenswichtig. "Der Fluss ist stark zerstört und es gibt kaum noch Fische", so Scheele. "Wenn man hier die letzten Störe erhalten will, darf man dem Rioni nicht noch mehr schaden.