"Härtere Streitkultur birgt Chancen"
29. Juni 2018Deutsche Welle: Streit ist urdemokratisch. Aber zuletzt sind in der politischen Auseinandersetzung harte Worte gefallen, noch dazu unter Partnern. Manche Bobachter sprechen schon von einer massiven Regierungskrise. Begrüßen Sie - als Kommunikationswissenschaftler - diese Form der deutlich abgrenzenden Auseinandersetzung?
Gerhard Vowe: Da steht ja schon vieles auf dem Spiel, zum Beispiel unsere Migrationspolitik. Damit hängt vieles zusammen. Hier muss dann schon in der Sache hart miteinander gekämpft werden: Es geht ja um einiges.
Hat sich nicht der Ton massiv verschärft?
Sagen wir so: Wir achten mehr darauf. Wir sehen mehr die Pöbeleien, die Beleidigungen. Das hat viel mit der technischen Grundlage der Kommunikation zu tun, dass wir jetzt stärker lesen können, wie auch Bürgerinnen und Bürger ihre Positionen zu artikulieren versuchen. Wir sehen mehr, wie sich die Auseinandersetzungen entwickeln.
Welche wesentlichen Unterschiede können Sie feststellen, wenn Sie sich die politische Kommunikation und damit einhergehend die politische Debattenkultur früher und heute ansehen?
Wir haben tatsächlich einen sehr tiefgreifenden Wandel in der politischen Kommunikation. Wenn Sie an die Achtundsechziger denken, an die Ost-West Auseinandersetzung, an die manifeste Bedrohung durch Terrorismus – alles das waren sehr tiefgreifende Auseinandersetzungen mit großen, auch persönlichen Angriffen.
Wir müssen also eher von Wellen sprechen. Jetzt sind wir wieder in einer Welle, in der Auseinandersetzungen härter geführt werden als früher. In der Politikwissenschaft spricht man von einer neuen Kluft zwischen Heimat und Welt, also zwischen eher traditionalistisch eingestellten und eher global eingestellten Bürgerinnen und Bürgern. Diese Konflikte nehmen zu.
Hat dieser Wandel erst mit dem Internet, mit der Digitalisierung angefangen?
Man kann ihn daran festmachen. Aber ich würde diese Technik nicht als die Ursache sehen: Sie bietet Möglichkeiten. Dass Menschen, um sich politisch zu informieren und zu artikulieren, auf das Internet zurückgreifen, das ist der eigentliche Grund. Und das hat dann wirklich erhebliche Konsequenzen. Das fängt bei den Kosten an. Durch die Digitalisierung streben die Kosten für politische Artikulation gegen null. Es kostet ja nichts mehr zu schreiben! Das heißt, es wird auch viel mehr wahrgenommen. Diese ökonomische Seite sollte man nicht vernachlässigen.
Inwieweit nehmen soziale Medien auch direkten Einfluss auf das Kommunikationsverhalten von Politikerinnen und Politikern?
Das beste Beispiel ist natürlich die Art, wie Trump jetzt Twitter nutzt. In welchem Maße es ihm gelingt, auch mit provokanten Äußerungen, die Medien vor sich herzutreiben und seine Deutungsmuster zu setzen. In seinem Fall ist das Twitter. Die AfD macht es immer stärker über Facebook, dass sie ihre Deutungsmuster und Themen an die Medien heranträgt, so dass die Medien es dann auch aufgreifen müssen.
Ist diese Form der über soziale Medien geführten Diskussion nicht eigentlich schon durch die vorgegebene Kürze bei Twitter und ihre Plakativität bei Facebook eine sehr oberflächliche Debatte? Sehen Sie da nicht einen qualitativen Unterschied zu früher geführten Auseinandersetzungen?
Viele Menschen haben sich schon immer kurz und knapp informiert und artikuliert, über Boulevard-Medien oder auch Fernsehnachrichten. Und sie haben auch in ihrer eigenen Art und Weise darüber debattiert, oft mit stark emotionalem Charakter. Von da aus hat sich einiges ins Netz verlagert. Dass in dieser gesamten politischen Kommunikation die etablierten Medien, die Elite-Medien, erheblich an Einfluss verloren haben, ist deutlich geworden.
Sie haben die AfD schon angesprochen. Welche Rolle spielt die AfD bei der Art, wie politische Debatten aktuell geführt werden?
So wie Alexander Gauland (Co-Bundesvorsitzender der AfD und Co-Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Deutschen Bundestag, Anm. d. Red.) das versprochen hat: "Wir werden Frau Merkel jagen." Sie sind dabei schon die Treiber - zum einen in der Sache, mit ihren Themen, die sie nachhaltig setzen. Aber auch in der Form treibt die AfD jetzt die anderen vor sich her, in dieser stark konfrontativen Weise. Auf der anderen Seite haben die anderen Parteien, aber auch die Medien bisher noch keinen Weg gefunden, mit der AfD in halbwegs vernünftiger Weise umzugehen. Indem man versucht, einen Dialog zu betreiben, der nicht auf Ausgrenzung beruht. Das Aussperren von Talkshows oder dieses Nicht-Interviewen, wenn es um die Oppositionsposition geht, das ist meines Erachtens kein richtiger Umgang.
Inwieweit beeinflussen die Medien, etwa die Polit-Talkshows, die politische Streitkultur – sowohl aus Politikerperspektive als auch aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger?
Sie verstärken ein konfrontatives Element in der Politik, und sie bestätigen die jeweiligen Anhänger der Position in ihren Meinungen. Aber das ist eine wichtige Funktion in einem Prozess der Meinungsbildung. Dass man sich seiner eigenen Meinung vergewissert und sich in der Auseinandersetzung mit anderen darüber klar wird, was gut ist, und was schlecht ist.
Welche Rolle spielt heute die außerparlamentarische Opposition in der öffentlichen Debatte?
Was wir gerade erleben, ist eine breite Aktivierung eines Teils der Bevölkerung, der sich früher nicht artikuliert hat. Pegida oder die zahlreichen Initiativen jetzt gegen Merkel - das ist ja etwas, was man so nicht erwartet hätte. Dass dieser Teil der politischen Positionierung sich selbst über Netz-Medien artikuliert und dann gestärkt in die in die öffentliche Debatte geht - das ist der entscheidende Politisierungsschub, den wir seit zwei, drei Jahren haben.
Natürlich bringt auch die eher linke oder auch liberale Seite ihre Themen sehr souverän und erfolgreich übers Netz in die Debatte, Stichwort #MeToo oder Klimawandel. Dabei ist aber das Phänomenale der letzten zwei Jahre die Aktivierung der schweigenden Minderheit, der 20 Prozent.
Wie bewerten Sie die derzeitige Streitkultur? So mancher freut sich ja, dass heute wieder Sachen ausgesprochen werden dürfen, die zuvor als unsäglich galten.
Es ist natürlich eine Chance für diejenigen, die sich sehr lange aus der Streitkultur ausgeschlossen gefühlt haben, aber jetzt in den Medien stärker vorkommen. Die werden Teil der politischen Kommunikation. Das birgt aber natürlich auch Risiken. Es ist unübersehbar, dass diese Beteiligung eher rechter, traditionalistischer Positionen in Teilen zu einer Verrohung führt.
Aber aus meiner Sicht sind die Chancen größer, dass es gelingt, sie nicht auszugrenzen, sondern einzubinden - dabei werden die Wissenschaft, aber auch die Medien oder die Politik lernen müssen, wie man miteinander auch bei erheblichen politischen Unterschieden umgeht. Es nutzt nie etwas, wenn man etwas unter den Teppich kehrt. Es ist immer besser, wenn sich jemand artikuliert und man dann mit ihm ins Gespräch kommen und sich das herauspicken kann, was anschlussfähig ist. Und deutlich machen kann, was nicht anschlussfähig und konsensfähig ist.
Was braucht es noch für eine gute, öffentliche Streitkultur?
Die Grundlagen für politische Streitkultur beinhalten, dass man einander mit dem notwendigen Maß an Respekt gegenüber tritt, gerade gegenüber einer Meinung, die nicht die eigene ist. Und die Fähigkeit, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen. Dadurch kann man dann im Grundsatz bestimmte Dinge auch akzeptieren, weil man sie besser versteht als vorher. Wenn das in der politischen Welt gelingt, dann kann man auch gemeinsam die anstehenden Probleme bewältigen. Und ich bin da ganz optimistisch.
Professor Gerhard Vowe lehrt Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Düsseldorf. Er forscht u.a. zur Wirkung von Social Media auf die politische Kommunikation.
Das Interview führte Sabine Peschel.