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Wie die Germanen wirklich lebten

Nadine Wojcik
20. September 2020

Für die Römer waren sie barbarische Gegner. Für die Nazis heroische Krieger. Eine archäologische Übersichtsschau räumt jetzt mit diesen Mythen auf.

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Cheruskerfuerst,"Hermann als Sieger" ein Auschnitt aus dme Gemälde von Wilhelm Lindenschmit um 1839
Cheruskerfürst Hermann besiegte die Römer in der Varusschlacht im Teutoburger Wald Bild: picture-alliance/akg-images

Gleich zur Beginn der archäologischen Ausstellung erfährt der Besucher: Die Germanen, die gab es so nicht. Zumindest gab es kein eigenständiges Volk, das sich selbst so nannte und organisierte. Vielmehr handelte es sich hierbei um eine Vielzahl an Stämmen, die in Dorfgemeinschaften lebten - auf recht großem Territorium: Vom 1. Jahrhundert bis zum 4. Jahrhundert nach Christus besiedelten diese Germanen das Gebiet nördlich der Donau.

"Germanen: Eine archäologische Bestandsaufnahme" heißt die Schau und ist genau das: eine unaufgeregte Überblicks-Schau. "Das Besondere daran ist, dass es die erste Ausstellung ist, wo wirklich einmal die Germanen in diesem großen Raum zwischen Rhein und Weichsel gesamtheitlich dargestellt werden", sagt Kurator Heino Neumayer vom Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin. Zwar habe es schon einige Ausstellungen gegeben, doch waren dort meist nur Teilaspekte zu sehen gewesen, wie beispielsweise die sagenumwobene Schlacht im Teutoburger Wald.

Luftaufnahme eines Dorfes mit einfachen Häusern und Hütten, aus denen Rauch aufsteigt, Pfaden und gelbgoldenen quadratischen Äckern, die von grünen Hecken umrandet sind
Digitale Rekonstruktion: Dorfgemeinschaft mit kultivierten AckerflächenBild: Nadine Wojcik/DW

Das Land ist zwar im Einzelnen recht unterschiedlich, doch im Ganzen gesehen teils durch seine Urwälder schauererregend", beschrieb der römische Historiker Tacitus das Land, das er "Germania" nannte, rund 100 nach Christus. Archäologische Funde, Leihgaben aus Deutschland, Dänemark, Polen und Rumänien zeigen jedoch ein anderes Bild: Die germanischen Stämme lebten zwar in Dörfern ohne befestigte Straße und nicht wie viele Römer in Städten, doch von Urwald kann keine Rede sein: Die Ausgrabungen belegen, dass es in bestimmten Gebieten etwa alle 12 Kilometer eine Siedlung gegeben haben muss; manchmal waren diese auch in Sichtweite voneinander, umgeben von Äckern und Wiesen.

Römer und Germanen: mehr als Feinde

Die germanischen Stämme waren Selbstversorger. Ihre Lebensgrundlage war die Land- und vor allem Viehwirtschaft. Rinder hatten offenbar einen hohen Stellenwert: So fanden die Archäologen eine Vielzahl an kleinen, aufwendig hergestellten Rinderfiguren, die auf einen regelrechten Rinder-Kult hindeuten. Alles, was die Stämme brauchten, stellten sie selbst her. Dafür nutzten sie unter anderem alle Bestandteile der Tiere wie Felle, Sehnen und Knochen beispielsweise für die Produktion von Kämmen.

Ausstellungsobjekte zeigen einen sortierten Haufen mit Holz, Knochen und geschnitzten Kämme
Germanische Kulturtechniken: Fein gearbeitete Kämme aus Holz und KnochenBild: Nadine Wojcik/DW

Dass die "Germanen" auch hervorragende Schmiede waren, zeigen viele beeindruckende Ausstellungstücke. Mit speziellen Werkzeugen wurden Schmuckstücke und Gefäße verziert. Die Schmiede kannten sich in der Edelmetallverarbeitung aus und wanderten teilweise auch als Wanderhandwerker von Region zu Region. Dabei brachten sie nicht nur ihre eigenen Fertigkeiten mit, sondern eigneten sich auch neue an - sogar von den Römern, mit denen die "Germanen" ja oft auf Kriegsfuß standen
So zeigt der Höhepunkt der Ausstellung eine hybride Kulturtechnik: Für einen Schildbuckel, der die Mitte eines Abwehrschildes schmückte, nutzte ein Schmied im 3. Jahrhundert nach Christus ein römisches Gefäß, das er dank einer ebenfalls von den Römern erlernten Technik vergoldete.

Überhöhung durch Nationalsozialisten

Nachdem die "archäologische Bestandsaufnahme" überzeugend darlegt, dass es sich bei den "Germanen" nicht um unkultivierten Barbaren handelte, wie es vor allem von den befeindeten Römern überliefert wurde, eruiert eine angrenzende Ausstellung die Gründe für die häufige Schieflage der "Germanenrezeption".

Silberner Schildbuckel mit goldenen Verzierungen (Foto: DW/N. Wojcik)
Ausstellungs-Schmuckstück: Aufwendig verzierter Schildbuckel eines germanischen Metallhandwerkers – hergestellt aus einem römischen SilbergefäßBild: Nadine Wojcik/DW

So beschäftigt sich "Germanen. 200 Jahre Mythos, Ideologie und Wissenschaft" im Neuen Museum, unterirdisch verbunden mit der James-Simon-Galerie, selbstkritisch mit der eigenen Rolle der Berliner Museen. Unter anderem ist auch ein NS-Propagandafilm zu sehen, der den Germanen-Kult stützen sollte - und in dem ein Sammlungsstück des Berliner Museums auftaucht. Das darauf zu erkennende Hakenkreuz-Symbol wurde im Film eigens farblich verstärkt, um die von den Nazis propagierten germanischen Wurzeln zu belegen.

Für Kurator Neumayer haben beide Ausstellungen derzeit eine besondere Wichtigkeit: "Der Germanen-Begriff wird von der neuen Rechten wieder stark benutzt - und falsch benutzt. Wir als Archäologen wollen da gegensteuern: Das, was von Germanen verbreitet wird, ist längst überholt. Es ist kein Volk und keine Nation." Schließlich sei der Begriff als Ordnungsgröße der Römer eingeführt worden, um all jene Stämme zu beschreiben, die nördlich der Alpen lebten. Wie vielfältig diese Stämme waren und dass es hier noch eine Menge zu entdecken gibt, das zeigt die Doppelausstellung noch bis zum 21. März 2021 auf der Berliner Museumsinsel.