Lebendiges Weltkulturerbe Quedlinburg
2. Juni 2019Das war vielleicht einmal die ungewöhnlichste Wohnstätte der Stadt: klein, beschwerlich zu erreichen, aber mit wunderbarer Aussicht. Hoch oben am Turm der Marktkirche klebt ein Annex, in dem seit dem späten 16. Jahrhundert der Türmer hauste. Seine Aufgabe war verantwortungsvoll. Er sollte die Stadt im Blick behalten und sofort jedes schwelende Feuer vermelden, um größere Katastrophen zu verhindern. Deshalb, so erzählt Stadtführerin Regina Peukert, musste der Türmer immer nüchtern bleiben. Doch den beschwerlichen Weg hoch zum Türmer ist keiner gerne gegangen. Und so hat niemand mitbekommen, wie gut ihm das Bier aus einer der vielen Brauereien der Stadt geschmeckt hat. Bis es eines Tages im Turm brannte. Und der Türmer nur überlebt hat, weil seine Ziege ihn die Treppe hinabstupste. Danach, sagt Regina Peukert, wurde in Quedlinburg das Amt des Türmers abgeschafft.
Im Märchenland
Die allermeisten Häuser, auf die er hätte achten sollen, haben die Zeitläufte mit all ihren Höhen und Tiefen zum Glück überstanden. Sie wären im Märchenland angekommen, sollen die US-amerikanischen Soldaten geschwärmt haben, die die Stadt 1945 vier Wochen lang besetzt hatten (was einen von ihnen nicht hinderte, den Stifts-Schatz zu klauen, der erst Jahrzehnte später gegen einen üppigen Finderlohn zurück gegeben wurde). Und so wie sie erliegt auch heute fast jeder Besucher dem Charme Quedlinburgs, einer der besterhaltenen Fachwerkstädte in Deutschland mit über 2000 Bauten aus sieben Jahrhunderten - farbenfroh bemalt und mit viel Liebe zum Detail verziert.
Die UNESCO hat das gesamte von Kopfsteinpflastergassen durchzogene romantische Kleinod vor 25 Jahren in die Welterbe-Liste aufgenommen - inklusive des Stiftsbergs mit der romanischen Stiftskirche, in der sich die Grablege des ersten deutsches Königpaares befindet, und des Münzbergs mit den Resten des Marienklosters.
Einmaliges Quedlinburg
Tatsächlich ist Quedlinburg in Sachsen-Anhalt nicht nur ein Musterbeispiel für die Geschichte des Fachwerkbaus, sondern hat auch eine Sonderstellung in der deutschen Geschichte inne. Bereits im 10. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt unter König Heinrich I. zu einem bedeutenden politischen und kulturellen Ort. Besondere Erwähnung verdient dabei das nach dem Tod Heinrichs gegründete adelige Frauenstift. Es erlangte nicht nur schnell beachtlichen Besitz, sondern war über Jahrhunderte auch ein Zentrum der Macht.
1993 verzeichnete die Stadt keine 30.000 Übernachtungen, im vergangenen Jahr waren es 473.145. Der Welterbe-Status zieht noch immer die Gäste an, aus dem Inland vor allem, aber zunehmend auch aus dem europäischen Ausland. Und die Chinesen kommen! Grüppchenweise ziehen sie durch die Stadt, steigen klaglos den ausgetretenen Weg zum Stiftsberg hoch und machen dort Selfies mit Altstadt-Panorama im Hintergrund. Sie haben ihren eigenen Stadtführer dabei und sind begeistert von so viel Geschichte. Ob ihnen auch schmeckt, was in den Restaurants und Cafés aufgetischt wird, das verraten sie nicht. Solide deutsche Kost ist zumeist im Angebot, gelegentlich mit mediterraner Anmutung. Und Kuchen, in den vielen Cafés der Stadt.
Kuchen und Kultur
Mit 197 verschiedenen Käsekuchen - von süß bis pikant, von traditionell bis exotisch - wirbt Maureen Vincent-Wehrenpfennig, die gemeinsam mit ihrem Mann die Käsekuchenbäckerei Vincent mit angeschlossenem Café betreibt. Eine täglich wechselnde Auswahl können die Gäste probieren - nach dem Besuch des Stiftsberges und bevor sie sich dann vielleicht das benachbarte Geburtshaus des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock ansehen oder die nur wenige Schritte entfernte Lyonel-Feininger-Galerie mit einer feinen Sammlung von Grafiken und Aquarellen des deutsch-amerikanischen Vertreters der klassischen Moderne. Oder bevor sie sich einfach wieder treiben lassen durch das Gewirr der mittelalterlichen Gassen mit ihren wunderschönen Häusern und all den Läden und Geschäften, in denen es so manches schöne Mitbringsel zu entdecken gibt.
"Wir sind klein und fein! Wir sind kein Museum, sondern eine funktionierende Stadt", schwärmt Katrin Kaltschmidt, Welterbe-Koordinatorin der Stadt Quedlinburg. 1987 ist sie hierher gekommen und hat sich sofort in die Stadt verliebt. Obwohl sie stark verfallen war. Eine Wanderausstellung auf 25 Tafeln, anlässlich des 25. Jahrestags der Aufnahme Quedlinburgs ins Welterbe zusammengestellt, erinnert auch daran.
Mühsamer Weg zum Weltkulturerbe
Sieben, acht Häuser seien schon zu DDR-Zeiten von polnischen Restauratoren hergerichtet worden, erzählt Katrin Kaltschmidt. Die meisten Gebäude aber hätten sich in einem jämmerlichen Zustand befunden. Kleine Räume, feucht und zugig, Kohleheizung, die Toilette im Hof, steile, ausgetretene Treppen, Verfall, Leerstand. Manch einer bezog eine Wohnung in einem neu errichteten Plattenbau am Stadtrand. Andere aber erkannten den Wert der historischen Gebäude und verfügten Ende der 80er Jahre sogar einen Abrissstopp. Diese Lobby engagierter Bürger habe sich dann nach der deutschen Wiedervereinigung engagiert um Sanierung und Restaurierung der Altstadt gekümmert, sagt Katrin Kaltschmidt - unterstützt vom Bund, dem Land Sachsen-Anhalt, der EU und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Deren Gelder fließen seit der Aufnahme Quedlinburgs ins Weltkulturerbe natürlich etwas üppiger. Über die Jahre wurde so Haus um Haus neuen Eigentümern zugeführt und mit viel Sachverstand restauriert.
Doreen Severin-Heiroth, Geschäftsführerin des Traditions-Hotels "Zum Bär", hat mit ihrer Familie auch ein Wohnhaus saniert. Fünf Jahre habe das gedauert. "Irgendwann denkt man, es geht nicht mehr weiter. Aber wenn es geschafft ist, hat man ein Unikat." Nicht nur Quedlinburger denken so, auch manch ein Investor hat die Stadt entdeckt. Zweit- und Ferienwohnungen sowie das eine oder andere kleine Hotel sind auf diese Weise hinter Fachwerk entstanden.
Stolze Quedlinburger
"Die kleinen, feinen schnuckeligen Häuser sind alle weg", sagt Katrin Kaltschmidt. Wie stolz die Eigentümer auf das sind, was sie geschaffen haben, merkt jeder Besucher der Stadt schnell. Denn überall trifft man auf freundliche Menschen, die von der Sanierung erzählen. Man darf sich umsehen, durch alte Hofdurchfahrten gehen, Treppenhäuser und Aufgänge bewundern. Und am Tag des Offenen Denkmals (der nächste findet am 8.9.2019 statt) laden viele Quedlinburger sogar zur Wohnungsbesichtigung. "Da sind es wirklich Privatleute, die voller Stolz die Besucher vom Keller bis ins Dachgeschoss, durch Schlafzimmer und Küche laufen lassen, um zu zeigen, was sie geschafft haben."
Längst gibt es in Quedlinburg eine ganze Reihe spezialisierter Fachbetriebe, die sich im Rahmen der langjährigen Sanierungsarbeiten besondere Fähigkeiten angeeignet haben. Einige, wie die Glaswerkstätten Schneemelcher, sind nicht nur landes- sondern sogar weltweit gefragt. Obwohl es in Quedlinburg immer noch genug zu tun gibt. 70 Prozent der Einzeldenkmale seien saniert, sagt Katrin Kaltschmidt, aber es gäbe eine Reihe großer Gebäude, die noch auf ein Nutzungskonzept und neue Eigentümer warten. Und größere Straßen müssten auch saniert werden. Was sie nicht erwähnt, ist der trostlose Zustand des Quedlinburger Bahnhofs. Ein historisches Gebäude - aufgegeben, ungepflegt, vergessen. Die schöne Stadt hätte ein anderes Entree verdient!