Feder und Foto statt Präparat
17. Februar 2015
Der kleine Vogel hat ein olivgrünes Gefieder, ein schwarzes Häubchen und einen kugeligen Körper – ein verblüffender, unerwarteter Anblick für den indischen Biologen Ramana Athreya. Der Vogel, ein Häherling, den er 1995 zu Gesicht bekam, war ihm gänzlich unbekannt. Der Forscher konnte auch keine Beschreibung finden, die auf seine Beobachtung im Schutzgebiet Eaglenest im Nordosten Indiens passte.
Sollte es sich hier etwa um eine neue Art handeln? Das wäre eine Sensation, denn Vögel sind vergleichsweise große Tiere, die dem menschlichen Entdeckergeist nur schwer entgehen. Doch der Ornithologe musste sich mit seiner Vermutung gedulden. Erst zehn Jahre später sollte er den kleinen Vogel erneut zu Gesicht bekommen – und diesmal gelang es ihm sogar, ein Exemplar zu fangen.
Athreyas Verdacht bestätigte sich: Dieser Vogel unterschied sich in Gefieder und vor allem in seinem Gesang so sehr von bisher bekannten Arten, dass sich der Vogelkundler sicher war, hier auf eine neue Art gestoßen zu sein. Er nannte sie Liocichla bugunorum, Bugunhäherling, zu Ehren des in dem Gebiet einheimischen Stammes, den Bugun.
In den folgenden Monaten fand Athreyas noch 14 Tiere in Eaglenest. Eine so geringe Zahl deutete für ihn auf eine bedrohte Art hin. Sicherlich seien das nicht die einzigen existierenden Exemplare, bedenkt er in der Artbeschreibung, „doch die Vertreter der Art sind eindeutig alles andere als zahlreich.“
Fotos anstelle eines “Typustieres”?
Deshalb entschied sich der Vogelkundler für einen ungewöhnlichen Schritt. Normalerweise ist es für die Beschreibung einer neuen Art zwingend notwendig, dass mindestens ein Exemplar als sogenanntes „Typusmaterial“ hinterlegt wird. Wann immer Zweifel bei der Bestimmung eines unbekannten Lebewesens aufkommen, und auch keine Literatur weiterhilft, dient es als höchste Instanz. Die Bedingung dafür ist allerdings, das Typustier zu töten – was alles andere als in Athreyas Interesse lag.
„Es hätte sich unangemessen angefühlt, in Anbetracht der winzigen Population ein Tier daraus zu entnehmen“, begründet er sein Vorgehen. Nur drei Brutpaare hatte er zählen können. Und Beispiele aus der Vergangenheit ließen vermuten, dass das wissenschaftliche Sammeln von Tieren wohl auch zu deren Aussterben beitragen könne. So ein Fall ist beispielsweise der Mexikanische Elfenkauz Micrathene whitneyi soccorroensis, dessen letztes Exemplar 1932 gesammelt wurde. Auch wenn nicht bewiesen werden kann, dass das Sammeln tatsächlich zum Aussterben geführt hat, die Art haben Vogelkundler seither nicht wieder gesehen.
Heute haben insbesondere Länder mit Biodiversitäts-Hotspots strenge Sammel- und Ausfuhrregularien, um allzu ausuferndes, wissenschaftliches Sammeln kontrollieren zu können.
So einen Effekt wollte Athreya vermeiden. Er fotografierte seinen Fang stattdessen ausführlich, vermaß den Körper, nahm den Gesang auf und behielt schließlich ein paar Federn, die das Tier verloren hatte, als er es davonfliegen ließ. Sie dienen seitdem als Belegmaterial für das komplette Tier. Die Population blieb geschont.
Ehrenhafte, aber seltene Option für Forscher
Doch so ehrenhaft Athreyas Vorgehen anmutet, es bleibt doch eher selten. Fotografie findet in der Artenforschung kaum Anhänger. Von Seiten der Systematiker hagelt es Kritik. In einer Arbeit aus dem Jahr 2014 beschreibt der US-amerikanische Ökologe Andrew Townsend Peterson unter anderem das Schicksal des in den neunziger Jahren entdeckten afrikanischen Buschwürgers Laniarius liberatus. Auch dieser Vogel war aus Schutzgründen nur anhand von Federn und Fotos beschrieben worden. Ganze siebzehn Jahre behielt Laniarius liberatus seinen Status als Art. Dann stellten andere Forscher fest, dass es sich lediglich um die Farbvariante eines anderen Buschwürgers handelte.
„Federn und Fotos mögen genügen, um eine neue Art von bereits bekannten Arten zu unterscheiden“, schreibt Peterson, „aber sie können nicht die Rolle eines kompletten Typustieres erfüllen.“ Was, wenn beispielsweise ein Körperteil des Tieres untersucht werden muss, der auf Fotos nicht festgehalten wurde? Gegen solche fehlenden Informationen kann nur ein komplettes Tier vorbeugen.
Das Beschreiben einer Art allein anhand von Fotos ist auch aus anderen Gründen problematisch: Tiere, die beispielsweise nur in der Tiefsee vorkommen, können nur schwerlich lebendig wieder dorthin befördert werden, nachdem man sie ausgiebig vermessen und fotografiert hat. Andere Lebewesen, die sich wiederum in Sedimenten verstecken oder nur mikroskopisch klein sind, können mit bloßem Auge weder gefunden noch betrachtet werden.
Unabdingbares Belegexemplar
Darüber hinaus dient das wissenschaftliche Sammeln nicht nur dem reinen Beleg, erklärte eine weitere Gruppe von Biologen aus aller Welt 2014 im Fachblatt „Science“. Wissenschaftliche Präparate würden auch dabei helfen, die gestaltliche Vielfalt innerhalb einer Art zu dokumentieren oder auch Veränderungen innerhalb einer Art festzustellen, die sich auf Schadstoffeintrag oder Klimawandel zurückführen lassen.
Dem Vogelforscher Athreya sind die Bedenken der Fachwelt durchaus bekannt. Nicht umsonst hat er mit der Veröffentlichung seiner neuen Art gehadert, weil er kein Belegexemplar anfügen konnte. Trotzdem entschied er sich 2006, seinen Fund im Fachmagazin „Indian Birds“ öffentlich zu machen. Die Zeit drängte, denn durch das Schutzgebiet sollte eine Schnellstraße gezogen werden. Die hätte nicht nur den Lebensraum des Bugunhäherlings bedroht. Denn so wenig, wie über ihn bekannt ist, wäre es sogar möglich gewesen, dass die von Athreya entdeckte Population eine derartige Störung ihres Lebensraums überhaupt nicht verkraftet hätte. Im schlimmsten Fall hätte sie aussterben können, ohne dass die Wissenschaft überhaupt von ihr Notiz genommen hätte.
Mit seiner Veröffentlichung hoffte Athreya, den Ausbau der Straße beeinflussen zu können. Sie wurde am Ende nicht gebaut. Allerdings wegen einer bislang unentdeckten Elefantenpopulation und nicht wegen des Häherlings. Dass sich dieser allerdings eindeutig genug von bisher bekannten Arten unterscheidet, haben auch die Daten aus Athreyas Artbeschreibung ausreichend belegt. Der Forscher sagt jedoch auch, dass er hoffe, ein Exemplar nachreichen zu können. Allerdings erst, wenn sicher ist, dass diese Entnahme den Bestand nicht nachhaltig gefährden würde.