Globaler Highway: 150 Jahre Suezkanal
17. November 2019"Die ägyptische Regierung gibt die Verstaatlichung des Suezkanals bekannt." Mit diesen nüchternen Worten machte Präsident Gamal Abdel Nasser im Oktober 1956 eine Entscheidung publik, die in Ägypten für Jubel, in Europa hingegen für Entsetzen sorgte. Lange Zeit hatte Nasser auf US-amerikanische Kredite für den Bau des Assuan-Stausees gewartet. Doch weil man im Weißen Haus fürchtete, Nasser könne im Kräftespiel des Kalten Krieges ins sowjetische Lager abdriften, hielt Präsident Eisenhower die Kredite zurück.
Empört entschloss sich Nasser zu einer Finanzierung auf anderem Weg, eben der Verstaatlichung des Suezkanals. Der aber lag mehrheitlich im Besitz der britisch-französischen Suez-Gesellschaft. Zwar versprach Nasser eine angemessene Entschädigung, doch die beiden europäischen Staaten wollten das nicht hinnehmen. Als weitere Verhandlungen scheiterten, griffen die beiden europäischen Staaten, unterstützt durch Israel, Ende Oktober Ägypten im Kanalgebiet an. In Reaktion darauf erzwangen die USA und die Sowjetunion auf dem Weg über die UNO den Rückzug der französischen, britischen und israelischen Truppen. Der Nahen Osten sollte das Einflussgebiet der Großmächte, nicht aber der Europäer sein.
Symbol des Fortschritts
Vornehmlich sei es Nasser darum gegangen, Gelder für sein Prestigeprojekt, den Assuan-Stausee aufzutreiben, sagt der Politologe Thomas Demmelhuber, von der Universität Erlangen-Nürnberg. Klar sei aber auch: Seit seiner Eröffnung war der Suezkanal ein nationales Prestigeobjekt. "Seit er vor über 150 Jahren durch ägyptische Bauern gebaut wurde, ist der Suezkanal ein Symbol des ägyptischen Fortschritts. Dieser Gedanke spielte auch bei der Verstaatlichung eine Rolle."
Dass die Verstaatlichung für ihn mehr als ein rein ökonomischer Akt war, deutete Nasser im Oktober 1956 selbst an. Für ihn stand die Übernahme des Kanals ganz im Zeichen des arabischen Nationalismus, der für Nasser auch eine große Rolle spielte. Und der arabische Nationalismus, so erklärte er, "entspringt den Gefühlen der Araber, den Herzen der Araber. Sie wollen in Würde leben. Und sie wollen unabhängig sein."
Baustelle zwischen zwei Meeren
Pläne, einen Kanal zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer zu ziehen, existierten schon seit langem, sagt Thomas Demmelhuber. "Die Osmanen trugen sich bereits im 16. Jahrhundert mit dem Gedanken. Auch die französischen Ingenieure, die 1798 im Tross von Napoleon nach Ägypten kamen, stellten entsprechende Untersuchungen an, kamen dann aber zu dem Schluss, das Projekt sei nicht realisierbar. Ähnlich sahen es zunächst die Briten. Erst Ferdinand de Lesseps trieb das Projekt dann voran."
Beim Bau waren zunächst Tausende europäischer Arbeiter mit dem Ausheben der Fahrrinne beschäftigt. Doch weil sich nicht genügend Männer rekrutieren ließen, zwangsverpflichtete der ägyptische Herrscher Mohammed Said 1861 gut 10.000 Arbeiter aus Oberägypten. Ein Jahr später ließ er noch einmal 18.000 weitere Arbeiter kommen.
"Kodakfilme, Whiskey, Ansichtskarten"
Freilich trieben den Herrscher auch demographische Sorgen: Zu viele Europäer, fürchtete er, könnten die Kanal-Zone de facto in einen Außenposten Europas verwandeln. Tatsächlich blieb der Kanal - vorerst - zwar ägyptisch, entwickelte sich aber zu einer internationalen Zone. "Port Said ist fast eine Stadt", notierte die französische Orientalistin Narcisse Berchère, die 1861/62 auf Einladung Lesseps einige Monate am Suezkanal verbrachte, über die Stadt am Nordende des Suezkanals, wo die Arbeiten begannen. "Man zählt 1023 Europäer und 1578 Araber. Es gibt Restaurants, Cafés, Schneider und Kantinen." Und es sind nicht nur ehrenwerte Menschen, die es in die Stadt zieht. Port Said, fasste ein englischer Reisender seine Eindrücke zusammen, "ist der Ort, an dem die Sünden aus Ost und West gemeinsames Asyl finden."
Entsprechend breit war auch die Angebotspalette: "Kodakfilme, Whiskey, Ansichtskarten und andere britische Annehmlichkeiten." Immer mehr Menschen kamen an den Kanal, der mehr und mehr zu einer globalen Drehscheibe wurde.
"Nicht länger ein Teil Afrikas"
Tatsächlich veränderte der Kanal das damalige Ägypten enorm: Die Kanalstädte, allen voran Port Said, entwickelten sich zu dynamischen Handelszentren, die Ägypten an das globale Handelsnetz anschlossen. Der "Highway Of The British Empire", wie der Kanal genannt wurde, verkürzte die Strecke zwischen London und Mumbay ganz erheblich, nämlich von 19.855 auf 11.593 Kilometer. Das brachte den Schiffsverkehr enorm in Schwung: Im Jahr 1870 durchquerten 486 Schiffe mit 26.758 Passagieren den Kanal. 1913 waren es bereits 5085 Durchfahrten mit insgesamt 234.320 Reisenden. "Mein Land ist nicht länger ein Teil Afrikas", sagte der ägyptische Herrscher Ismael Pascha anlässlich der Eröffnung des Suezkanals am 17. November 1869. "Ich habe es zu einem Teil Europas gemacht."
Messlatte des Fortschritts
Seit der 2015 abgeschlossenen Erweiterung können auf dem Highway noch mehr Schiffe fahren. Nachdem der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi den Startschuss zu den Bauten gegeben hatte, hoben 45 Baggerschiffe im Zusammenspiel mit tausenden Baggern und Transportfahrzeugen über 258 Millionen Kubikmeter Sand aus. Auf einer Strecke von fast 40 Kilometern erweiterten sie den Kanal.
"Der Bau der parallelen gut 35 Kilometern langen Trasse sowie die Erweiterung und Vertiefung über eine ebenso lange Strecke stellen für al-Sisi im Grunde genommen das Gleiche dar, was für Nasser der Assuan-Staudamm war: ein Prestigeobjekt, das die Leistungsfähigkeit der Regierung bezeugen soll", sagt Thomas Demmelhuber.
Durch den Ausbau hat sich die Transportkapazität des Kanals verdoppelt: Statt zuvor 49 können nun bis zu 100 Schiffe die Wasserstraße Tag für Tag durchfahren. Doch ökonomisch ist der Nutzen des Kanals noch nicht ausgeschöpft. "Im Haushaltsjahr 2018/19 sind Einnahmen von 5,9 Milliarden Dollar genannt. Das ist immens. Aber es entspricht bei weitem nicht den antizipierten Einnahmen, die man durch den Ausbau generieren wollte." So bleibt der Kanal eine Messlatte des nationalen Prestiges - und zugleich Erinnerung, dass das Land längst noch nicht an das Ende seiner Möglichkeiten gekommen ist.