Gorbatschow, ein "einzigartiger Staatsmann"
31. August 2022Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, hat sich "zutiefst traurig" über den Tod des früheren sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow gezeigt. Dieser sei ein "einzigartiger Staatsmann" gewesen, der den Lauf der Geschichte verändert habe, ließ Guterres mitteilen. "Er hat mehr als jeder andere dazu beigetragen, den Kalten Krieg friedlich zu beenden."
US-Präsident Joe Biden bezeichnete Gorbatschow als Politiker mit "außergewöhnlicher Weitsicht". Er habe als Anführer der Sowjetunion mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zusammengearbeitet, um die Atomwaffenarsenale beider Länder zu reduzieren. Im eigenen Land habe Gorbatschow "nach Jahrzehnten der brutalen politischen Unterdrückung demokratische Reformen" auf den Weg gebracht, erklärte Biden weiter. Er habe Glasnost und Perestroika - Offenheit und Umgestaltung - "nicht als bloße Slogans" angesehen.
Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, stellte insbesondere Gorbatschows Bedeutung für Europa heraus. Er habe eine entscheidende Rolle beim Fall des Eisernen Vorhangs gespielt, schrieb die deutsche Politikerin auf Twitter. Sie nannte Gorbatschow eine Führungspersönlichkeit, die zuverlässig und geachtet gewesen sei. "Er ebnete den Weg für ein freies Europa. Dieses Vermächtnis werden wir nie vergessen."
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron würdigte Gorbatschow als "Mann des Friedens, dessen Entscheidungen den Russen den Weg zur Freiheit eröffnet haben". Und weiter führte er aus: "Sein Engagement für Frieden in Europa hat unsere gemeinsame Geschichte verändert."
Der britische Premierminister Boris Johnson erklärte: "Ich habe immer den Mut und die Integrität bewundert, die er zeigte, als er den Kalten Krieg zu einem friedlichen Ende brachte." Mit Blick auf den vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angeordneten Angriffskrieg gegen die Ukraine fügte der scheidende Regierungschef hinzu: "In Zeiten von Putins Aggression in der Ukraine ist sein (Gorbatschows) unermüdliches Engagement für eine Öffnung der sowjetischen Gesellschaft ein Vorbild für uns alle."
Steinmeier: Gorbatschows Traum "liegt in Trümmern"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier versicherte Deutschlands Verbundenheit mit dem "großen Staatsmann" Gorbatschow und drückte "Dankbarkeit für seinen entscheidenden Beitrag zur deutschen Einheit" aus. Weiter lobte Steinmeier seinen "Mut zur demokratischen Öffnung und zum Brückenschlag zwischen Ost und West, und in Erinnerung an seine große Vision von einem gemeinsamen und friedlichen Haus Europa". Dieser Traum sei in den vergangenen Jahren in immer weitere Ferne gerückt und liege heute in Trümmern, "zerstört durch den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine", sagte Steinmeier.
Bundeskanzler Olaf Scholz würdigte Gorbatschow als "mutigen Reformer". Seine Politik habe es möglich gemacht, "dass Deutschland vereint werden konnte und der Eiserne Vorhang verschwunden ist". Auch Russland habe dank Gorbatschow den Versuch unternehmen können, eine Demokratie zu etablieren. Nun sei er in einer Zeit gestorben, "in der nicht nur die Demokratie in Russland gescheitert ist", sondern in der der russische Präsident Wladimir Putin auch neue Gräben in Europa ziehe. "Gerade deshalb denken wir an Michail Gorbatschow und wissen, welche Bedeutung er für die Entwicklung Europas und auch unseres Landes in den letzten Jahren hatte", sagte Scholz.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock twitterte, Gorbatschow habe sich "in Schicksalsmomenten unserer Geschichte von Frieden und der Verständigung zwischen Menschen leiten lassen". Sie bezeichnete die deutsche Wiedervereinigung als "Vermächtnis" des damaligen sowjetischen Präsidenten.
Ohne Gorbatschow "wären die friedlichen Revolutionen in den Ländern des Ostblocks, bei uns, so nicht denkbar gewesen", meinte auch Baerbocks Grünen-Parteikollegin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt. "Seine Worte haben uns, haben mich, ermutigt, stark gemacht", schrieb die in der DDR aufgewachsene Politikerin.
Altbundeskanzlerin Angela Merkel würdigte Gorbatschow als "einen einzigartigen Weltpolitiker". Einer online veröffentlichten Erklärung zufolge sagte Merkel: "Möge die Erinnerung an seine historische Leistung gerade in diesen schrecklichen Wochen und Monaten des Krieges Russlands gegen die Ukraine ein Innehalten möglich machen." Sie erinnerte an Glasnost und Perestroika, ohne die "auch die friedliche Revolution in der DDR nicht möglich gewesen" wäre. Michail Gorbatschow habe auch ihr Leben grundlegend verändert, erklärte Merkel.
Horst Teltschik, einer der wichtigsten Berater des Wiedervereinigungs-Bundeskanzlers Helmut Kohl, erinnerte sich im Gespräch mit der DW an eine Begegnung mit dem damaligen sowjetischen Präsidenten: "Es war ein wirklich aufregender Moment, denn überraschend und ohne lange Erklärung sagte Gorbatschow plötzlich: 'Herr Bundeskanzler, es ist nun an den Regierungen der DDR und Westdeutschlands, ob, wie und wann sie eine Wiedervereinigung wollen'."
Putin: "strebte nach eigenen Lösungen für dringliche Probleme"
Russlands Präsident Wladimir Putin drückte nach Angaben von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow seine "tiefste Anteilnahme" aus. "Michail Gorbatschow war ein Politiker und Staatsmann, der die Weltgeschichte stark geprägt hat", erklärte Putin. "Er führte unser Land durch eine Zeit komplexer, dramatischer Umbrüche sowie große außenpolitische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Ihm war die Notwendigkeit für Reformen klar, er strebte danach, eigene Lösungen für dringliche Probleme anzubieten."
"Gorbatschow gab uns die Freiheit. Er hat Millionen von Menschen die Freiheit gegeben - in Russland und seinem Umfeld und noch dazu der Hälfte Europas", schrieb der liberale russische Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski im Nachrichtenkanal Telegram. Es liege auch heute in der Verantwortung der Russen, die damals geschenkte Freiheit zu nutzen, betonte der Gründer der Partei Jabloko.
Keine Heldenfigur im Baltikum
Nüchternere Töne kamen aus den baltischen Staaten, die gegen ihren Willen nach dem Zweiten Weltkrieg zu Sowjetrepubliken wurden und deren wiedererstarkte Unabhängigkeitsbewegungen in Gorbatschows Amtszeit fielen. "Das sowjetische System konnte der Konkurrenz mit dem westlichen System nicht standhalten", twitterte Lettlands Präsident Egils Levits. Gorbatschows Reformversuche hätten zum Zusammenbruch der UdSSR geführt. "Das Baltikum spielte dabei eine große Rolle", schrieb Levits auf Twitter.
Der Außenminister des benachbarten Litauen, Gabrielius Landsbergis, twitterte, sein Land werde Gorbatschow nicht "glorifizieren": "Wir werden niemals die einfache Wahrheit vergessen, dass seine Armee Zivilisten ermordete, um die Besetzung unseres Landes durch sein Regime zu verlängern. Seine Soldaten feuerten auf unsere unbewaffneten Demonstrierenden und zermalmten sie unter ihren Panzern. So werden wir uns an ihn erinnern."
Die sowjetische Führung um Gorbatschow hatte im Januar 1991 die Armee angewiesen, Demonstrationen in Vilnius notfalls gewaltsam zu beenden. Damals kamen 14 Menschen ums Leben. Litauen hatte sich bereits 1990 als erste Sowjetrepublik einseitig für unabhängig erklärt. Endgültig erlangten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit im Sommer 1991 wieder, nachdem in Moskau erfolglos gegen Gorbatschow geputscht worden war.
Zur Beisetzung nach Moskau?
Welche internationalen Gäste zur Beerdigung Gorbatschows nach Moskau kommen werden, ist unklar. Als Reaktion auf Sanktionen hat Russland viele ranghohe europäische und amerikanische Politiker mit Einreiseverboten belegt. Zudem ist der Luftraum über Russland für Flugzeuge aus "unfreundlichen EU-Staaten" gesperrt. Westliche Politiker meiden derzeit ohnehin den Kontakt mit Russland.
Der am Dienstag im Alter von 91 Jahren verstorbene Gorbatschow soll auf Moskaus Prominentenfriedhof am Neujungfrauenkloster beigesetzt werden. Dort hatte sich der Friedensnobelpreisträger eine Grabstelle neben seiner Frau Raissa Gorbatschowa gesichert.
wa/fw/ehl (dpa, afp, rtr)