Brasilien: Greenwashing in der Papierherstellung?
6. Juli 2023Am 23. Januar 2023 ging auf der Piste von Curvelandia in Brasilien nichts mehr. Mehrere Stunden lang blockierten die Bewohner der Ortschaft im Bundesstaat Maranhao mit Ästen und Palmwedeln die rote Schotterstraße, die durch ihr 1200-Seelen-Dorf führt.
Die Forderungen der Blockade: Die Firma Suzano, größter Produzent für Eukalyptus-Zellstoff in Lateinamerika, sollte die von ihr gebaute unbefestigte Straße durch die Gemeinde endlich teeren, die Zahl der Lastwagen zu den nahegelegenen Eukalyptusplantagen reduzieren und die Umweltprobleme angehen, die durch den Straßenbau für die Anwohner entstanden sind.
"Es gab keine Vereinbarung (über den Bau einer Straße), sie haben niemandem irgendwelche Kompensation bezahlt", berichtet Sandro Lucio, einer der Bewohner von Curvelandia. Lucio gehört ein Teil des Landes, durch das nun die rote Schotterstraße führt.
Stattdessen seien eines Tages unangekündigt schwere Maschinen aufgetaucht. "Sie rissen den Zaun auf meinem Land ein, und ein Lastwagen überfuhr und tötete mein Pferd. Sie installierten Wassersysteme, ohne eine staatliche Erlaubnis vorzulegen, dass sie Wasser aus den Quellen entnehmen dürfen." Lucios Ansicht zufolge hatte die Firma keine Berechtigung dazu, das Land sei privat, sagt er.
Zahlreiche Vorwürfe und Gerichtsverfahren gegen Zellstoffhersteller Suzano
Die Geschehnisse in Curvelandia sind kein Einzelfall. Die Deutsche Welle untersuchte acht aktuelle sozio-ökologische Konflikte in Brasilien und sprach vor Ort mit Beamten, Gemeindevorstehern und Gewerkschaftsvertretern. Aus den Recherchen ergaben sich Hinweise auf mindestens 40 weitere Fälle.
Laut Unterlagen der US-Börsenaufsicht kommen auf Suzano mehr als 260 mögliche und wahrscheinliche Zivil- und Umweltverfahren zu - sowie mehr als 2500 entsprechende Verfahren vor Arbeitsgerichten. Die Vorwürfe gegen das Unternehmen reichen vom wahllosen Einsatz von Pestiziden, über Gewässerverschmutzung bis hin zu Landraub und dem Versäumnis, sich bei Infrastrukturprojekten mit der lokalen Bevölkerung abzustimmen.
Doch Suzano, das über eine Million Hektar Eukalyptusplantagen in ganz Brasilien verwaltet und diese Fläche in den nächsten zehn Jahren fast verdoppeln möchte, hat es dennoch geschafft, gute ESG-Bewertungen für seine Nachhaltigkeitspraktiken zu bekommen und damit Milliarden grüner Investitionsgelder zu erhalten. Mit sogenannten ESG-Ratings (für Environmental, Social and Governance, also Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung), wird die Bonität von Firmen für mögliche Investoren eingeschätzt.
Die Schattenseiten des nachhaltigen Finanzsektors
Weltweit ist das nachhaltige Finanzwesen der am schnellsten wachsende Finanzsektor. Die Weltbank geht davon aus, dass er von umgerechnet 90 Milliarden Euro innerhalb der nächsten drei Jahre auf rund neun Billionen Euro im Jahr 2030 anwachsen wird. Und Suzano profitiert schon jetzt.
So hat das multinationale Unternehmen bereits Milliardenbeträge von großen Investoren wie der französischen Bankengruppe Credit Agricole, dem staatlichen Pensionsfonds Norwegens oder dem niederländischen Pensionsfonds Zorg en Welzijn erhalten.
Laut einer Analyse von Forest & Finance, einem Zusammenschluss von Organisationen, die Unternehmen überwacht, die mit sogenannten Waldrisikogütern handeln, bekam Suzano zwischen 2015 und 2020 satte 15 Prozent aller bekannten Kredite und Darlehen für solche Waren und ist damit der größte Kreditempfänger. Zu den Waldrisikogütern gehören alle Produkte, die aus der Bewirtschaftung eines geschützten Waldgebietes stammen. Legal dürfen solche Güter nur dann erzeugt werden, wenn sichergestellt ist, dass sich der Zustand des geschützten Lebensraums durch die Produktion nicht verschlechtert.
Gefahr für Tropenwälder durch Soja, Rinderhaltung, Holzprodukte
Doch häufig steht die Produktion von Produkten wie Rindfleisch, Soja, Palmöl, Kakao, Kautschuk und für Holzprodukte, Zellstoff und Papier mit Entwaldung in Verbindung, einer der Hauptursachen für die Erwärmung des Planeten.
Der Handel mit Waldrisikogütern und die Abholzungen gehen zudem oft mit Landraub und Menschenrechtsverletzungen einher, sagt Ward Warmerdam. Er ist leitender Finanzforscher bei Profundo, einer in den Niederlanden ansässigen Nichtregierungsorganisation, die die Nachhaltigkeit internationaler Rohstofflieferketten analysiert
Laut Warmerdam sollten Banken und andere Investoren eine genauere Sorgfaltsprüfung durchführen, bevor sie eine Finanzierung in Betracht ziehen - doch meistens werde das eben nicht getan. "Das ist eines der größten Probleme", so Warmerdam. "Alle Finanzinstitute, die Richtlinien entwickeln, tun dies auf freiwilliger Basis. Und das bedeutet, dass es keine Standards, keine Vorschriften und keine Überwachung gibt."
Inzwischen ist es Suzano gelungen, auch Finanzmittel in Form von ESG-Anleihen anzuziehen. Im Jahr 2016 war das Unternehmen eines der ersten in einem Schwellenland, das das grüne Wertpapiere ausgab, und 2020 begann es mit der Ausgabe nachhaltigkeitsbezogener Anleihen. Diese Anleihen knüpfen die externe Finanzierung an ausgewählte ökologische und soziale Ziele, etwa in den Bereichen Emissionen, Wassernutzung oder der Geschlechtervielfalt im Management.
Rund 39 Prozent der Schulden von Suzano sind an grüne Finanzierungen gekoppelt, und dieser Anteil wird noch steigen.
"Mit dem Eukalyptus hat sich alles verändert"
Celio Pinheiro Leocadio ist Leiter der Volta Miuda Quilombo Gemeinschaft. In solchen "Quilombos" leben in Brasilien mehr als 1,1 Millionen Nachfahren afrikanischer Menschen, die der Sklaverei entkommen sind. Leocadio ist bestürzt darüber, dass der Zellstoffriese Suzano so viele grüne Finanzmittel an Land ziehen konnte. "Suzano begeht Umweltrassismus. Es missachtet die Geschichte unseres Volkes, unsere schwarzen Vorfahren und das Leid, das wir tragen und erfahren."
Die fast 3500 Quilombo-Gemeinschaften haben laut der brasilianischen Verfassung besondere Rechte, darunter das Recht auf ihr angestammtes Gebiet. Allerdings haben nur 206 von ihnen offizielle Landtitel, was sie anfällig für territoriale Streitigkeiten macht.
Rund 90 Prozent der 6500 Hektar des Volta-Miuda-Gebiets, das ganz im Süden des brasilianischen Bundesstaates Bahia liegt, sind mit Eukalyptusplantagen bedeckt, die Suzano entweder betreibt oder besitzt. Die Bäume wachsen zwischen den Häusern der Gemeindemitglieder. Die Plantagen, so berichten sie, hätten den Grundwasserspiegel absinken lassen und die eingesetzten Chemikalien verschmutzten die Bäche und Flüsse.
"Diese ganze Region war einst reich an allem", erzählt Pinheiro Leocadio. "Aber der Eukalyptus hat alles verändert: Die Wasserquellen begannen zu versiegen und wir haben unsere Wälder verloren."
Nachhaltige ESG-Ratings trotz Landraub und Umweltproblemen?
Die niederländische Organisation BankTrack, die Investitionen des Privatsektors von Geschäftsbanken verfolgt, führt Suzano in ihrer Rubrik "dodgy deals" auf - einer roten Liste von umweltfeindlichen Projekten oder Unternehmen, die von Banken finanziert werden. Das Unternehmen stehe dort vor allem deshalb, weil es in der Vergangenheit immer wieder in Landkonflikten mit den traditionell ansässigen Gemeinschaften verwickelt war, so die NGO.
Laut Berichten des brasilianische Journalisten Antenor Ferreira sind rund 70 Prozent der Suzano-Plantagen im Bundesstaat Maranhao im Nordosten Brasiliens auf Landraub zurückzuführen. Auch brasilianische und internationale Nichtregierungsorganisationen haben ausführlich über die laufenden Konflikte mit dem Unternehmen berichtet.
Diese Informationen spiegeln sich jedoch nicht unbedingt in der ESG-Bewertung eines Unternehmens wider. Derzeit werden die meisten Unternehmen danach bewertet, ob sie sich ganz grundsätzlich eine Menschenrechts- oder Umweltpolitik verordnet haben - aber nicht danach, ob sie diese auch einhalten.
ESG-Bewertungen mit "blinden Flecken"
"In einer ESG-Bewertung werden alle Kriterien meist in einem Punkt zusammengefasst, es wird also nicht getrennt auf die einzelnen Bereiche "E, S und G" geschaut", erklärt Joanne Bauer, Umwelt- und Menschenrechtsexpertin und außerordentliche Professorin für internationale Angelegenheiten an der Columbia University. "Wenn ein Unternehmen dann nur aufgrund von Umweltkriterien als nachhaltig gilt, obwohl es die sozialen Kriterien nicht erfüllt, ist das ein blinder Fleck in Sachen Menschenrechte."
Eine Sprecherin des niederländischen Pensioenfonds Zorg en Welzijn teilte der DW mit, dass die Vorwürfe gegen Suzano, einschließlich der in diesem Artikel erwähnten, auch in ihrem internen Screening-Prozess aufgefallen seien. Man werde "weiterhin direkt mit dem Unternehmen in Kontakt treten, um diese Vorwürfe zu verstehen", hieß es. Es sei nicht ausgeschlossen, dass das Ergebnis dieser Gespräche "schließlich zu einer Veräußerung führen könnte".
Credit Agricole und der Norwegian Government Pension Fund Global lehnten eine DW-Anfrage nach einer Stellungnahme ab. Sie verwiesen stattdessen auf ihre interne "Forstwirtschafts- und Palmöl-Politik" sowie auf Richtlinien, die den Unternehmen in ihrem Portfolio vorschreiben, wie diese mit "globalen Herausforderungen" wie Klimawandel und Menschenrechten umgehen sollen.
Einheimische protestieren gegen neue Suzano-Straßen im atlantischen Regenwald
Inzwischen baut Suzano eine Straße durch Volta Miuda und die Gebiete von zwei weiteren Quilombo-Gemeinschaften im Osten Brasiliens. Dadurch würden nicht nur der heimische Atlantische Regenwald zerstört, sondern auch die traditionellen Wege und Sammelplätze, die die Menschen vor Ort seit Generationen nutzten, kritisieren Pinheiro Leocadio und andere Gemeindemitglieder.
Im Januar appllierten Volta Miuda und sieben weitere Quilombo-Gemeinden, die seit Jahren gegen Suzano kämpfen, per Brief an das zuständige Bundesministerium und das Büro des örtlichen Pflichtverteidigers, den Bau der neuen Straße zu stoppen. "Sie ignorieren uns", so Pinheiro Leocadio. "Unser Recht, konsultiert zu werden, wurde verletzt."
Auf die Bitte um Stellungnahme teilte Suzano der DW mit: "Engagement ist das Herzstück unserer Unternehmenspolitik." Das schließe, so das Unternehmen weiter, "unser Engagement mit dem Volta Miuda Quilombo und der Curvelandia-Gemeinschaft ein".
Der Zellstoffriese gibt an, im vergangenen Jahr mehr als 3700 Dialoge geführt zu haben, im Durchschnitt mehr als zehn pro Tag. Man sei mehr als 85 Prozent der "identifizierten betrieblichen Probleme angegangen, wobei in mehr als 92 Prozent eine effektive Lösung gefunden wurde."
Riesige Eukalyptus-Monokulturen "nie gut für Mensch und Umwelt"
Ende letzten Jahres genehmigte die Internationale Finanz-Corporation (IFC), der private Zweig der Weltbank, ein Darlehen in Höhe von 600 Millionen Dollar an Suzano für den Bau eines neuen Zellstoffwerks im südöstlichen Bundesstaat Mato Grosso do Sul.
Es wird dann das weltweit größte Werk zur Herstellung von Eukalyptus-Zellstoff sein. Es soll ein "fossilfreies" Zellstoffwerk werden, das den kostengünstigsten Laubholz-Zellstoff der Branche produzieren und nach Angaben von Suzano nur minimale Auswirkungen auf die Umwelt haben soll.
"Das Projekt wird zu weiteren sozialen Konflikten führen und die großflächige Eukalyptus-Monokultur wird den Reichtum an Artenvielfalt verringern", prognostiziert Karen Vermeer vom Environmental Paper Network.
Die Nichtregierungsorganisation ist ein Zusammenschluss aus mehr als 150 zivilgesellschaftlichen Umweltorganisationen und setzt sich für eine nachhaltige Papierindustrie ein. Gemeinsam mit mehr als 40 weiteren Umwelt- und zivilgesellschaftlichen Organisationen hat sie die IFC in einem offenen Brief aufgefordert, den Kredit für das Projekt nicht zu genehmigen.
"Es ist ausgeschlossen, dass eine Monokultur-Plantage, zumindest nicht in der Größenordnung, in der Suzano sie betreibt, jemals gut für Mensch und die Umwelt sein könnte", betont Vermeer.
Redaktion: Tamsin Walker
Diese Recherche wurde mit Unterstützung des Journalismfund Europe erstellt
Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk