Wo Kinder in Kliniken verwahrt werden
25. Juni 2019Eine Szene im Foyer des Athener Kinderkrankenhauses Agia Sofia (Artikelbild): Eine junge Helferin einer Nichtregierungsorganisation (NGO) nimmt einen Jungen an die Hand. Ein Spaziergang. Der Kleine dürfte etwa fünf Jahre alt sein, augenscheinlich hat er eine leichte Behinderung. Die junge Frau versucht, den Jungen ein wenig aufzuheitern - am Münzfernsprecher. Und das funktioniert. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als er den Hörer hält und das Freizeichen hört.
Der Kleine gehört zu einer Gruppe von etwa 30 Kindern, die sich gegenwärtig in dieser Klinik befinden, ohne tatsächlich krank zu sein. Sie leben dort wie Patienten, dabei brauchen sie gar keine medizinische Behandlung. Manche wurden von ihren Eltern im Stich gelassen. Andere leben in Krankenhaus-Zimmern, weil Behörden die Trennung von den Familien angeordnet haben. Denn die Kinder wurden vernachlässigt oder gar missbraucht.
Einzige Lösung für den Staatsanwalt
Staatsanwälte in Griechenland haben Krankenhäuser seit jeher dazu benutzt, in solchen Fällen Kinder unterzubringen - mindestens seit 25 Jahren, wie Sofia Konstantelia erklärt, die Leiterin des Sozialzentrums der Präfektur Attika. Und obwohl sich das Klinikpersonal um die Mädchen und Jungen kümmert und NGO-Mitarbeiter emotionale Unterstützung leisten, sind sich Experten einig: Ein Krankenhaus ist dafür nicht der richtige Platz, erst recht nicht für einen längeren Zeitraum.
Sie habe sich des Problems angenommen, sagt Xeni Dimitriou, die Generalstaatsanwältin des griechischen Obersten Gerichtshofs, auf die Frage, wie verbreitet diese Praxis sei. "In meiner Zeit als Staatsanwältin war das oft die einzige Lösung, das Kind unterzubringen. Es musste ja ohnehin ins Krankenhaus, um untersucht zu werden. Die Kinder bleiben dann einfach längere Zeit dort, das passiert auch heute noch, wenn auch in geringerem Maße als früher."
Die "Krankenhaus-Kinder"
Mehr als 200 Mädchen und Jungen wurden in der Vergangenheit pro Jahr in Hospitälern aufgenommen. Und dort regelrecht verwahrt. Die Zahl ging zu Beginn der Finanzkrise in Griechenland deutlich nach oben, wie Xenia Apostola vom Sozialdienst des Agia Sofia Krankenhauses berichtet. Heute sind nach Angaben der Gewerkschaft der Angestellten in den öffentlichen Krankenhäusern in und um Athen etwas mehr als 70 Kinder aus diesen Gründen in Kliniken untergebracht.
Einige müssen dort mehr als sechs Monate verbringen, bevor die Behörden für sie einen Platz in einem Kinderheim gefunden haben. In einem der DW bekannten Fall musste ein behindert geborenes Kind bis zu seinem dritten Lebensjahr in der Agia Sofia Klinik bleiben - ohne dabei jemals das Haus verlassen zu haben. In einem anderen Fall blieb ein Kind sogar mehr als sieben Jahre hier, bevor es gelang, es in einer Einrichtung unterzubringen, die auf die Behinderung zugeschnitten war.
Giorgos Nikolaidis ist Psychiater und Vorsitzender des Lanzarote-Komitees des Europarats. Diese Institution hat die Aufgabe, den Schutz von Kindern gegen Missbrauch im europäischen Raum sicherzustellen. Nikolaidis meint, dass diese Unterbringung von Kindern, "ein Hinweis auf das Fehlen anderer, angemessener Systeme zum Schutz von Kindern ist, wie etwa der Notfallpflege".
Übergriffe durch Teenager
Seit einigen Monaten machen nun vermehrt Krankenhaus-Mitarbeiter auf das Problem aufmerksam. Als Reaktion darauf wurden vorübergehende Lösungen geschaffen. So nahm zum Beispiel das Wohlfahrtszentrum von Attika sieben Kinder im Alter unter vier Jahren auf. Das Gesundheitsministerium in Athen sagte zu, neue Unterkünfte zu schaffen, in denen am Ende alle "Krankenhauskinder" untergebracht werden können. Noch im Juli, so heißt es, sollen diese Häuser in Betrieb genommen werden.
Unzureichender Kinderschutz
Viele Experten sind mit dieser Lösung unzufrieden. Sie verweisen darauf, dass Griechenland einer der letzten Staaten in Europa ist, in denen der Schutz von Kindern fast ausschließlich durch Heime sichergestellt wird. Diese Einrichtungen werden entweder vom Staat, von der griechisch-orthodoxen Kirche oder von verschiedenen NGOs betrieben.
"Es gibt bereits zu viele Institutionen", sagt Sofia Konstantelia vom Sozialzentrum in Attika zu. Sie glaubt, dass die Lösung des Problems nicht in Kinderheimen, sondern in anderen Formen der Pflege liegt.
Hinzukommt, dass es in Griechenland kein einheitliches System zum Schutz von Minderjährigen gibt. Stattdessen kümmern sich hunderte von Diensten überall im Land um dieses Thema, mit unübersichtlichen Verantwortlichkeiten. Die Kommunikation zwischen diesen Stellen ist schwierig. Informelle Netzwerke oder engagierte Experten, die sich kennen, greifen ein, um schlimmste Folgen zu verhindern. Aber Haushalts- und Personaleinsparungen während der Wirtschaftskrise in Griechenland haben natürlich nicht dazu beigetragen, hier etwas zu verbessern.
Immer wieder haben Regierungen in Athen dieses Thema aufgegriffen - und sind mit Reformen gescheitert. Nun aber scheint es voran zu gehen. Ein zentrales Register ist in Arbeit. Dort sollen alle Institutionen - öffentliche wie private - hinterlegen, welche Kinder sie in Obhut haben. "Wir haben bereits damit begonnen, unsere Akten in das Register zu überführen", sagt Konstantelia der DW.
Pflegeeltern gesucht
Ein weiterer wichtiger Schritt war ein neues Pflegegesetz. Der stellvertretende Minister für Sozialangelegenheiten, Theano Fotiou, verweist darauf, dass bereits mehr als 130 Anträge von künftigen Pflegeeltern ebenfalls in dem Register aufgenommen wurden, außerdem 600 weitere zur langfristigen Adoption.
Doch der Fortschritt ist auch hier eine Schnecke. Denn es gibt keine Garantie dafür, dass alle Institutionen das neue Register auch benutzen, obwohl sie dazu verpflichtet sind. Und spezielle Formen der Pflege erfordern umfangreichere Prüfprotokolle, ganz zu schweigen davon, dass auch Finanzmittel fehlen. Und wie sich die von Ministerpräsident Alexis Tsipras für den 7. Juli ausgerufenen Parlamentswahlen auf die Umsetzung der Reformen auswirken, ist völlig offen.
"Pass auf Dich auf, mein Junge"
"Ich denke, Pflegefamilien sind die ideale Lösung", sagt Staatsanwältin Dimitriou. "Natürlich machen auch Pflegeeltern Fehler, wie alle anderen, aber es ist immer noch eine Familie, es ist eine spezielle Betreuung für das Kind", fügt sie hinzu. Zu befürchten sei allerdings, dass die griechische Gesellschaft noch nicht "offen genug" für diese Familienform sei. Es fehlt an einer Kommunikationsstrategie oder -kampagne, die helfen könnte, die Öffentlichkeit für ein derart neues Pflegesystem zu sensibilisieren,
Zurück in der Lobby des Kinderkrankenhauses Agia Sofia. Ein älterer Mann im Rollstuhl und eine junge Frau, die einen Patienten besucht haben, sind herausgegangen, an die frische Luft. Ein NGO-Helfer geht an ihnen vorbei, in seiner Begleitung ein 15-jähriger Junge. Die beiden schieben einen Wagen mit den Habseligkeiten des Jungen zu einem Auto. Das Fahrzeug gehört einer NGO, die Kinderheime betreibt. Es ist nur ein kurzer Moment, als sich die Blicke des 15-Jährigen und des Mannes im Rollstuhl treffen. "Pass auf Dich auf, mein Junge", sagt der Mann. "Viel Glück."
Diesen Text hat hat das Journalisten-Netzwerk The Manifold produziert, das seinen Sitz in Athen, London und Nikosia hat. Es sind: Mariniki Alevizopoulou, Yiannis Baboulias, Yannis-Orestis Papadimitriou, Achilleas Zavallis und Augustine Zenakos.