Großbritannien: Ukraine-Flüchtlinge unerwünscht
7. März 2022Der britische Premier Boris Johnson twittert fast im Stundentakt zum Krieg in der Ukraine. Er scheint eine größere Rolle beim internationalen Umgang mit dem Krieg zu suchen, zumindest in der medialen Wahrnehmung. Am Wochenende schlug Johnson einen Sechs-Punkte-Plan vor, der von einer humanitären Koalition der Helfer über Verschärfung des wirtschaftlichen Drucks bis zu einer diplomatischen Offensive reicht. Was darin allerdings nicht vorkommt, ist die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine.
Frankreich ist erneut verärgert
Am Wochenende schrieb der französische Innenminister Gerald Darmanin einen verärgerten Brief an seine britische Kollegin Priti Patel. Hunderte von ukrainischen Flüchtlingen seien in Calais gestrandet und versuchten, nach Großbritannien weiterzureisen. An der Grenze würden sie aber von britischen Beamten aufgefordert, in einem Konsulat erst ein Visum zu beantragen, bevor sie einreisen könnten.
Die britische Reaktion sei "völlig unpassend" und zeige einen "Mangel an Humanität", schrieb der Franzose an Priti Patel in London. In den letzten Tagen seien 400 Ukrainer eingetroffen, von denen 150 abgewiesen worden seien mit der Aufforderung, zunächst nach Brüssel oder Paris zu fahren. "Es ist unabdingbar, dass es eine konsularische Vertretung an der Grenze gibt, speziell für die Dauer dieser Krise, um unmittelbar Visa für die Familienzusammenführung auszustellen", so Darmamin.
Sein Brief kommt nur wenige Monate nach einem Streit über Migranten, die sich in Calais sammeln, um in kleinen Booten die Überfahrt auf die britische Seite des Ärmelkanals zu wagen. London hatte Paris vorgeworfen, nicht genug gegen die Menschenschmuggler zu tun, die diese illegalen Überfahrten organisieren. Die französische Regierung wiederum verurteilte London, weil es keinen Weg zur legalen Einreise gebe.
50 Visa - ist das alles ?
Nach Aussagen des UN-Flüchtlingskommissars Filippo Grandi sind inzwischen 1,5 Millionen Ukrainer vor dem Krieg geflüchtet, vorwiegend Kinder, Frauen und Alte. Eine Million von ihnen wurde zunächst in Polen aufgenommen, im winzigen Moldawien sind es rund 200.000. In Deutschland wurden bereits 50.000 Flüchtlinge registriert, wobei die tatsächliche Zahl höher liegen dürfte, weil es keine Einreiseformalitäten gibt. Die EU hatte am vergangenen Freitag eine beispiellose Sonderregelung geschaffen, wonach Ukrainer bis zu drei Jahre Schutz in den Mitgliedsländern erhalten können, inklusive Arbeitserlaubnis und Krankenversicherung.
Demgegenüber scheint die britische Regelung, die sich weitgehend auf den Familiennachzug beschränkt, besonders engherzig. Da nur rund 18.000 Ukrainer in Großbritannien leben, wäre dieses Programm sowieso sehr begrenzt. Bis Montag dieser Woche hat London nach eigenen Aussagen nur 50 Einreisevisa für ukrainische Flüchtlinge vergeben.
Außenamtsminister James Cleverly bemühte sich am Morgen bei Sky News, diese geringe Zahl zu rechtfertigen: "Wir haben Verfahren für diejenigen, die Verwandte aus der Ukraine haben. Aber Großbritannien hat damit (Einreiseerlaubnisse) gerade erst angefangen. Die Mehrzahl der Menschen ist in den Nachbarländern und wir helfen dort, wo die Probleme sind. Wenn sie nach Großbritannien wollen haben wir zwei Wege: den Familiennachzug und die Patenschaft (Sponsorship)." Damit können Gemeinden oder Einzelpersonen eine Art Haftung für ukrainische Flüchtlinge übernehmen.
Die Kritik an diesen engen Kriterien wird immer lauter. Die Labour-Abgeordnete Yvette Cooper schrieb am Wochenende: "Der Premierminister behauptet, wir hätten 'schon zwei sehr großzügige Wege'. Aber es wurden nur 50 Visa erteilt. Der andere Weg (Sponsorship) ist noch nicht einmal offen. Das ist eine totale Schande. Verzweifelte ukrainische Familien werden abgewiesen und in ihrer Stunde der Not allein gelassen."
Minister widersprechen sich und Boris Johnson
Im Laufe des Montag versank die Regierung in London dann vollends im Durcheinander. Die Boulevardzeitung The Sun zitierte aus dem Innenministerium von Priti Patel: Man prüfe eine weitere "humanitäre Route mit Partner-Regierungen". Dem aber widersprach umgehend Boris Johnson in einem TV Statement: "Was wir nicht tun werden ist, ein System einführen, wonach Leute ohne Prüfung oder Kontrollen nach Großbritannien kommen können." Und sein Regierungssprecher verwies im Mittagsbriefing auf die beiden bekannten Wege zu Einreise: Familiennachzug und Patenschaft. Darüber hinaus sei nichts geplant.
Kritik daran gibt es zunehmend auch in den eigenen Reihen. Der konservative Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Tom Tugendhat sagte im Interview mit LBC Radio auf die Frage nach der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen: "Es ist bestimmt kein Erfolg, oder? Wir müssen sicherstellen, dass das Innenministerium seine Arbeit tut, damit wir die unterstützen können, die in größter Not sind." Und der Vorsitzende des britischen Flüchtlingsrats, Enver Solomon, geißelt die Haltung der Regierung in deutlichen Worten: "Wenn so etwas in Calais passiert (die Abweisung von Flüchtlingen) ist das abstoßend und zeigt einen verstörenden Mangel an Mitgefühl. Es zeigt die feindliche Umgebung unseres Asylsystems."