Aufbruchstimmung und Zusammenraufen
26. September 2017Am Tag zwei nach der Bundestagswahl summt es im Reichstagsgebäude wie in einem Bienenstock. Noch nie sind so viele Abgeordnete in das deutsche Parlament eingezogen. 709 sind es, sie gehören sieben Parteien an. Da CDU und CSU weiterhin eine Fraktionsgemeinschaft bilden wollen, wird es sechs Fraktionen geben. Für die Bundestagsverwaltung ist es eine echte Herausforderung, für alle einen Platz finden. In der vergangenen Legislaturperiode teilten sich vier Fraktionen im Reichstag die dritte Etage. Die reicht nun nicht mehr aus.
Alte und neue Parlamentarier geben sich am Dienstag im Bundestag die Klinke in die Hand. Die Stimmung ist gemischt, denn viele bisherige Parlamentarier können aufgrund des Wahlergebnisses überraschend nicht in den 19. Deutschen Bundestag einziehen. Die CDU/CSU-Fraktion wird 65 Abgeordnete weniger zählen, die SPD verliert 40 Sitze im Parlament. Ein beachtlicher Aderlass. So sind die ersten Fraktionssitzungen auch ein Ort des Abschieds voneinander.
Aufbruchsstimmung und Zusammenraufen
Für die neuen Abgeordneten sind im Reichstagsgebäude lange Tische aufgebaut. Bundestagsbedienstete halten in grauen Klappkörben Ausweise und Unterlagen bereit. Nach vier Jahren Abstinenz wieder im Bundestag vertreten ist die FDP. Ihre Fraktion hat sich bereits am Montagnachmittag unweit des Reichstags in der FDP-Parteizentrale konstituiert, also gegründet. Parteichef Christian Lindner ist einstimmig zum Fraktionsvorsitzenden gewählt worden.
Von so viel Harmonie sind CDU und CSU weit entfernt. In der ersten gemeinsamen Fraktionssitzung wird Volker Kauder zwar erneut zum Vorsitzenden gewählt. Doch der 68-jährige langjährige Vertraute von Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel erhält nur 77 Prozent der Stimmen. Ein deutlicher Dämpfer, war Kauder doch seit 2005 stets mit mehr als 90 Prozent der Stimmen gewählt worden.
Ernste Stunden erlebte auch die CSU-Landesgruppe ein paar Stunden zuvor. Die meisten Abgeordneten benutzen den Haupteingang der Bayerischen Landesvertretung, wenden sich gegen Personaldebatten, sprechen, wie Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt, vom "miserablen Wahlergebnis". Die Union müsse gemeinsam das bürgerlich-konservative Lager wieder besser ansprechen.
Die CSU gibt sich kämpferisch
CSU-Chef Horst Seehofer ist dann plötzlich da, kommt von irgendwoher, vielleicht aus der Tiefgarage. "Wir wollen einen klaren Kurs mit starker Regierung. Das haben wir eben besprochen. An anderem Ort." Es klingt sehr danach, als sei er im Kanzleramt bei CDU-Chefin Angela Merkel gewesen. Aber er lässt das offen. Erwartungsgemäß macht die CSU-Landesgruppe Alexander Dobrindt, bisher Bundesverkehrsminister, zu ihrem neuen Vorsitzenden. Einstimmig wird er nicht gewählt.
Seehofer spricht, ebenso wie Dobrindt, ruhig und leise. Oft, wenn Seehofer ruhig und leise spricht, brodelt er innerlich. Rücktrittsforderungen an ihn? "Das kommentiere ich nicht. Trotz dieser schwierigen Situation, sehr schwierigen Situation. In schwierigen Situationen muss man manchmal ausgleichen." Beim Parteitag Mitte November mit den Wahlen der Parteispitze könne man alles offen diskutieren. Seehofer hält einen zweiten Parteitag für möglich, spricht auch - das wäre neu für die Christsozialen - die Möglichkeit eines Mitgliederentscheids zum Koalitionsvertrag an.
Donnergrollen in der Union
Seehofer ist zwar kein Bundestagsabgeordneter. Bei der anschließenden Fraktionssitzung von CDU und CSU ist er trotzdem dabei und legt noch einmal nach. Nach den schweren Stimmenverlusten seien spürbare Konsequenzen zu ziehen. Man dürfe nach so einem Ergebnis nicht zur Tagesordnung übergehen. Dafür erntet er Beifall, wie Unionsabgeordnete später berichten. Seehofer fordert eine klare Positionierung der Union als Partei der Mitte, in der auch Wert- und Nationalkonservative eine Heimat hätten.
Wie soll das zu den potenziellen Koalitionspartnern FDP und Grüne passen? Das wird sich bei den ersten Sondierungsgesprächen zeigen. So schnell werden die aber sicherlich nicht stattfinden. Erst einmal wollen die Schwesterparteien CDU und CSU den Kurs für solche Gespräche untereinander abklären. Ihr Verhältnis sei trotz der angespannten Situation "unverändert gut", sagt Seehofer - und fügt hinzu: "Ich habe die ganz große Zuversicht im Herzen, dass wir geschlossen diese Sondierungsgespräche als Union führen können."
Die Grünen stehen parat für Jamaika
Auf einen entsprechenden Anruf warten die Grünen. Sie gaben ihren parlamentarischen Einstand im sogenannten Protokollsaal, wenige Meter hinter dem großen Bundesadler im Plenum. Ihr bisheriger Fraktionssaal reichte für das Treffen der frisch gewählten und der scheidenden Parlamentarier nicht aus. 67 Abgeordnete sind in dieser Wahlperiode dabei, vier mehr als in der vergangenen. Mehr als die Hälfte sind Frauen. "Uns geht es ums Ganze", lautet das Motto der Grünen. Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag könnte das auch für die Auseinandersetzung der etablierten Parteien mit den rechtspopulistischen Newcomern gelten.
"Wir werden der Alternative für Deutschland nichts durchgehen lassen, was demokratiefeindlich ist", kündigte Katrin Göring-Eckardt an, im Wahlkampf eine der beiden Spitzenkandidatinnen der Partei und bisherige Fraktionsvorsitzende. Parteikollege Anton Hofreiter ergänzte: "Der AfD müssen wir klar sagen, die Regeln im Deutschen Bundestag gelten auch für sie."
Verantwortungsbewusst und offen wollen die Grünen in Sondierungsgespräche für ein mögliches Jamaika-Bündnis mit CDU/CSU und FDP gehen. "Wir sind bereit, erste Gespräche zu führen", so Göring-Eckardt durchaus resolut an dieser Stelle. Die Grünen stünden regierungsbereit parat, soll die Botschaft des Tages sein. Man wolle sich mit guten politischen Lösungen um diejenigen kümmern, die sich von der Politik abgehängt fühlten.
Der Markenkern der Grünen müsse sich aber in einem möglichen Koalitionsvertrag widerspiegeln. Für Hofreiter bedeutet dies, den Klimaschutz ernsthaft anzugehen, gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron europäische Projekte auf den Weg zu bringen und sich nicht vor Problemen mit Migration nach Italien und Griechenland wegzuducken. "Diesen Auftrag der Wähler müssen wir umsetzen, aber den können wir auch umsetzen", ergänzt Katrin Göring-Eckardt.
Die Linken sind nicht mehr Oppositionsführer
Der neuen Links-Fraktion gehören 69 Abgeordnete an, vier mehr als bislang. Sie ist personell weiblich und westlich geprägt: 37 Frauen stehen 32 Männer gegenüber. Und fast zwei Drittel der Abgeordneten stammen aus den alten Bundesländern, nämlich 43 von 69. Als sich die neue Fraktion in ihrem nach der Frauenrechtlerin Clara Zetkin benannten Saal trifft, stehen die Sektgläser schon bereit. Doch die Freude ist spürbar getrübt, denn die Linke hat ihre Rolle als Oppositionsführerin verloren.
Im alten Bundestag war sie dritte Kraft, das ist nun die AfD. Für die Sozialisten reichte es lediglich zu Platz fünf. Auf die neue Konkurrenz am rechten Rand ging der bisherige Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch nur kurz ein: Es sei auch Aufgabe der Linken, mit den Rechtspopulisten "die Auseinandersetzung im Parlament zu führen". Seine eigene Fraktion bezeichnet er als die "soziale Opposition im Land".
Man werde sehr genau darauf achten, dass der Koalitionsvertrag - wer auch immer ihn abschließen werde - "wirklich die Herausforderungen annimmt" oder ob "das Land im wesentlichen verwaltet und wenig gestaltet wird", ähnlich wie in den vergangenen vier Jahren. Dass es tatsächlich zu einer Jamaika-Koalition aus Union, Freien Demokraten und Grünen kommt, ist für Bartsch keineswegs ausgemacht: "Ich habe eine gewisse Skepsis, wie das zusammengeht."
Die SPD leckt ihre Wunden
Bei den Sozialdemokraten ist die Stimmung sehr gedämpft. Schließlich fuhr die Partei ihr schlechtestes Wahlergebnis bei einer Bundestagswahl seit 1949 ein. "Wir interpretieren dieses Wahlergebnis eindeutig", sagt der scheidende SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann. "Die Wählerinnen und Wähler wollen damit die große Koalition abwählen und sie weisen der SPD den Platz in der Opposition zu." Dem werde seine Partei folgen. "Das ist auch ein Dienst am Land und ein Dienst an der Demokratie." Es sei gut, "wenn zwischen den rechten und linken Parteien der Mitte, der CDU und der SPD, wieder eine Polarisierung hergestellt" werde.
Oppermanns Nachfolgerin soll die bisherige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles werden. Die Rolle der Oppositionsführerin sei für sie "maßgeschneidert". Nahles sei "geradlinig, kompetent und erfahren", so Oppermann, und wenn sie am Mittwoch an die Spitze der Fraktion gewählt werde, sei das "ein Signal der Erneuerung". Die 42-Jährige wird die erste Frau an der Spitze einer SPD-Bundestagsfraktion sein.
Nervosität bei der AfD
Weit weg von den Fraktionssälen der anderen Parteien trifft sich die AfD zur konstituierenden Sitzung in einem Bundestagsgebäude am anderen Spreeufer. Am Morgen war das Lieblingsmotiv der Fernsehkameras der Tisch mit den Namensschildern der 93 Abgeordneten, nachdem Nummer 94, Frauke Petry, die Fraktion verlassen hatte. Mittlerweile hat sie auch ihren Parteiaustritt angekündigt. Gibt es weitere Querschläger? Bei der AfD liegt Nervosität in der Luft. Als kurz vor Sitzungsbeginn noch mehr als ein Dutzend Namensschilder auf dem Tisch vor dem Saal liegen, greift der Pressechef beherzt zu und bringt sie hinein. Doch schließlich kommen alle - außer Petry natürlich. Einige hatten schlicht Parkplatzprobleme. Im Saal empfängt Albrecht Glaser mittlerweile Alice Weidel mit Umarmung. Glaser hat für die AfD als Bundespräsident kandidiert, war ein Petry-Freund und ist als Strippenzieher und Stratege bekannt. Jetzt kann er die parlamentarisch wenig erfahrene Weidel unterstützen.
Denn wie geplant wird die 38-jährige Alice Weidel am frühen Abend im Duo mit Alexander Gauland an die Fraktionsspitze gewählt, mit 86 Prozent der Stimmen. Sie sagt kurz, das sei ein gutes Ergebnis, Gauland und Weidel lächeln sich an und einige Journalisten blöden über "Weiland", in Anlehnung an "Brangelina". Gauland zeigt sich auch dankbar, dass Frauke Petry selber aus der Partei austreten wolle. Von einem Ausschlussverfahren halte er nicht viel.
Es war ein langer Tag. Morgen sollen die Stellvertreter und fachpolitischen Sprecher gewählt werden. Mal sehen, ob Frauke Petry den einstigen Parteifreunden dann wieder die Show stehlen wird.