Gruppentherapie mit Abramović
28. Februar 2017Das Wesen, das mich sanft an die Hand nimmt, als ich den runden Kuppelraum betrete, ist schwarz gekleidet, hat blassblaue Augen, weißblond gefärbte Haare und ein Nasenpiercing. Ich kann eine ganze Zeit lang nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Es trägt ein sanftes Lächeln, mehr noch in den Augen als um den Mund. Ich vertraue mich gerne an, die Hand ist kühl aber freundlich. Wir schreiten durch den Seitengang, im Halbrund um den Innenraum, alles Gepäck habe ich am Eingang gelassen, auch das lebensbestimmende Smartphone.
Die Klanglandschaft, in die ich falle, ist sakral. Aber der Teppich aus Stimmen ist nicht kirchlich, die Harmonien sind in einer stetigen Suche, fallen ineinander, Frage und Antwort, kein Anbeten, kein Weihrauch steigt in meine Nase. Wir passieren eine Gruppe riesenhafter Statuen und biegen in den inneren Kreis ab, über uns wölbt sich eine riesige Kuppel. Mit hellem Klebeband sind auf dem dunkelbraunen Holzboden verschiedene Räume markiert, kleine Gruppen von Vierecken, ein Dreieck, ein paar Kreuze. Meine Begleitung führt mich sanft in ein großes Rechteck in der Mitte des Raumes, in dem schon vier Menschen stehen, und lässt meine Hand los.
Marina Abramovićs neue Performance "The Cleaner" wird sieben Tage in Stockholm zu erleben sein, jeden Tag acht Stunden lang, in der Eric Ericsonhallen in unmittelbarer Nähe vom Moderna Museet. Zuletzt hat die Künstlerin 2014 in London eine ähnliche Performance gemacht: "512 hours" in der Serpentine Gallery. Wie jetzt auch in der Eric Ericsonhallen mussten die Besucher alle Gegenstände zurücklassen, durften so lang bleiben, wie sie wollten, und wurden Teil der Performance. Mehr noch: Sie waren die Performance. Aber während bei "512 hours" die Besucher mit Kopfhörern in eine auditive Isolation getrieben wurden, werden sie bei "The Cleaner" durch Musik verbunden.
Aus schäbigen Kellern befreit
"512 hours" zeigte "Momente, die mir das Gefühl gaben, dass all meine Arbeit über all die Jahre die Mühe wert gewesen war", schreibt Marina Abramović in ihrer 2016 erschienen Autobiografie: "Sie lieferten mir den Beweis für die transformative Kraft von Performance-Kunst." Diesen Ansatz verfolgt sie seither weiter. Auch wenn Kritiker ihr Inhaltslosigkeit und selbstreferentielles Kultivieren der eigenen Berühmtheit vorwarfen. "Marina Abramović hat die Performance-Kunst aus den schäbigen Kellern in die großen Kunsthäuser geholt", sagt Catrin Lundqvist vom Moderna Museet, Co-Kuratorin der Performances.
Kunst ohne Objekt ist in den vergangenen Jahren zum Kern von Abramovićs Arbeiten geworden: Ihre Ausstellung "The Artist is present" im New Yorker Museum of Modern Art 2010 war zweifellos der Höhepunkt dieser Entwicklung - und ihrer Karriere. Die Künstlerin war präsent - und wie: Über drei Monate lang saß sie an sechs Tagen in der Woche im MoMA auf einem Stuhl, sieben Stunden lang reglos. Immer wieder wendete sie sich ihrem jeweiligen Gegenüber neu zu, ohne Regung. Es schien als wollte sie die Frage "Ist das Kunst?", über die sie sich in ihrem mittlerweile 40-jährigen Werdegang als Performance-Künstlerin mehr als einmal geärgert haben muss, nochmal mit aller Wucht beantworten. Eine dreiviertel Millionen Menschen kamen, die Schlange vor dem MoMA wurde jeden Morgen länger, die Menschen warteten stundenlang. Marina Abramović wurde zur Berühmtheit. Das Publikum war fasziniert, die Kunstkritik gespalten. Der stark emotionalisierte Dokumentarfilm "The Artist is present" hat zur breiten Bekanntheit von Marina Abramović weiter beigetragen: Er setzte der Künstlerin ein Denkmal.
Wie es sich innerhalb einer Performance lebt
Bereits um 14 Uhr hat sich vor dem beeindruckenden Kuppelbau der Skeppsholmskyrkan, einer ehemaligen Kirche die 2002 in einen Konzertsaal umgenutzt wurde, eine lange Schlange gebildet. Es dürfen sich nur etwa 170 Personen gleichzeitig im Raum aufhalten. Das Publikum ist bunt gemischt, junge Hipster und alte Bourgeousie, auch Schulkinder sind vereinzelte da. Sie alle werden von einem der schwarz gekleideten Performer an die Hand genommen.
Ob sie auch geschielt haben wie ich, wo sie denn nun ist, die Abramović? Sie ist da, in schlichten schwarzen Kleidern wie ihre Performer, mit den gleichen langsamen Schritten durchschreitet sie den Raum. Ihr Gesicht ist seltsam alterlos, die Züge ein wenig maskenhaft, aber die Augen beseelt, ein Lächeln auf den Lippen. Sie begleitet einzelne Menschen, hierhin, dorthin. Oft legt sie ihnen einfach nur von hinten die Hände auf die Schultern. Und dann: Verschwindet sie. Es ist interessant, wie sie über die acht Stunden, die ich in dem Raum verbringe, an Relevanz verliert. Die Grande Dame der Performance tritt in den Hintergrund.
Geschärfte Sinne
Dafür sehe ich andere Menschen mit mehr Aufmerksamkeit, besonders die Performer: Mit manchen schaue ich mir minutenlang in die Augen. Einige umarmen mich, legen mir die Hand auf. Es liegt etwas Besonderes in diesem Moment des Gesehenwerdens, des an die Hand genommen Werdens. Zum einen versetzt es in eine liebevolle Stimmung, zum anderen setzt es Energie frei. Und mit dieser wird man den anderen Menschen im Raum gegenüber aufmerksamer. Verbundener. Ist das nun Kunst oder Esoterik?
Mit der Zeit suche ich mir meinen Platz selbst aus, berühre wildfremde Menschen. Mal liege, sitze, laufe oder stehe ich. Jede Begegnung verändert mich ein wenig. Die Sänger eröffnen einen Klangraum, in dem wir uns wie kleine Partikel bewegen. In den besten Momente fühle ich mich, als wäre ich Teil eines vor Klang vibrierenden Instruments.
Klanglandschaft aus Chören
Bei "The Cleaner" werden zum erstenmal auch Chöre und Solisten bei einer Performance eingesetzt. Eine Gruppe professioneller Sänger verbindet die verschiedenen hintereinander auftretenden Chöre, daraus entsteht eine durchgängige, achtstündige Gesangsaufführung. "Sie sind wirklich ein Abbild von Schweden, wie Stockholm in klein: Da sind Chöre von Immigranten, wie der Irakische Frauenchor oder der bulgarische Chor, aber auch traditionell schwedische Männer- und Kirchenchöre, die klassische Lieder singen. Und einige Solo-Musiker sind auch dabei", erklärt Catrin Lundqvist vom Moderna Museet, die die Chöre zusammen mit Abramović Choreographin Lynsey Peisinger in einem monatelangen Prozess ausgesucht und zusammen gestellt hat. Genauso wie die 29 Performer, die die Besucher bei "The Cleaner" begleiten, führen, ihnen nachspüren.
Wie lässt sich Performance-Kunst bewahren?
Eine vorläufige Antwort lässt sich in der Stockholmer Ausstellung begutachten: Der Besucher wandert durch Marina Abramovićs Leben und ihre Performances. Es ist die erste Retrospektive auf europäischen Boden. Umso erstaunlicher, da die Künstlerin aus Ex-Jugoslawien stammt und bereits seit den 1970er-Jahren für ihre Performances bekannt ist: Documenta, Biennale, you name it. Seit den 1990er-Jahren hat die mittlerweile 70-Jährige nicht nur angefangen, anderen Performern ihre Techniken nahezubringen, sie reproduziert Performances auch. Den Anfang machte "Seven Easy Pieces", das Marina Abramović 2005 im New Yorker Guggenheim Museum aufführte: An sieben aufeinanderfolgenden Abenden zeigte sie sieben sehr provokante Performances, eigene und fremde. Eine Hommage an die Performance-Künstler der 1970er und der erste Versuch, Performance-Kunst durch Re-Performance zu verewigen.
In der MoMA-Retrospektive ließ Marina Abramović dann erstmals Andere ihre eigenen Performances zeigen. Re-Performances von "Art must be beautiful, Artist must be beautiful", "Cleaning the Mirror" und "The Freeing Series" werden jetzt auch in der Stockholmer Retrospektive gezeigt. "Das ist natürlich für ein Museum etwas seltenes: Lebende Kunstwerke. Das war eine echte Herausforderung", sagt Catrin Lundqvist. Mit dem Resultat ist sie sehr zufrieden: "Ich finde dass die Re-Performances bei Marinas Arbeiten sehr gut funktionieren."
Nachlassverwaltung in der Performance-Kunst
Neben Re-Performance verfolgt Marina Abramović in den vergangenen Jahren vor allem Gruppenperformances wie "The Cleaner". Sie sind emotional ergreifend, energetisierend. Acht Stunden ohne Wasser und Toilette? Kein Problem. Nach acht Stunden fühle ich mich wie in Energie geduscht. Ich vermute, dass es den 650 anderen Besuchern ähnlich geht. Inwiefern dabei Kunst entstanden ist? Stoff für viele weitere Kunstdebatten. Aber Transformation ist deutlich feststellbar.