"Größte Entdeckung des Jahrhunderts"
5. Juli 2012Deutsche Welle: Wieso wollen sich die Physiker eigentlich nicht festlegen, ob sie das Higgs-Teilchen gefunden haben oder nicht?
Joachim Mnich: Wir sind immer ein bisschen vorsichtig. Wir können mit Sicherheit sagen, dass wir ein neues Teilchen gefunden haben. Aber um sicher zu sein, dass es tatsächlich ein Higgs-Teilchen ist, müssen wir noch die Eigenschaften studieren. Dazu hatten wir bislang noch keine Gelegenheit. Die letzten Daten sind gerade einmal zwei Wochen alt.
Ist das eine Sensation, die wir hier erleben?
Ich halte das für die bislang größte Entdeckung in diesem Jahrhundert auf dem Gebiet der Physik. Ich bin überzeugt, dass wir ein Higgs-Teilchen gesehen haben. Aber selbst wenn es etwas anderes ist, wäre das eine Sensation. Denn dafür ist in dem Modell, das wir heute von den fundamentalen Bausteinen der Materie haben, überhaupt kein Platz. Das wäre also auf jeden Fall eine weltbewegende Neuigkeit.
Warum genau ist das alles so spektakulär?
Wir haben über die letzten Jahrzehnte ein Modell entwickelt, das die Bestandteile der sichtbaren Materie erklärt. In diesem Modell geht man aber von Teilchen ohne Masse aus. Sie haben aber eine Masse – gottseidank, denn sonst wäre das Universum nicht so, wie wir es heute kennen. Peter Higgs und andere Forscher haben in den sechziger Jahren einen mathematischen Trick entwickelt, um beides miteinander in Einklang zu bringen. Und zwar mittels des Higgs-Teilchens, das wir aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt entdeckt haben.
Was bedeutet diese Entdeckung für uns?
Durch diese Entdeckung sind wir einen wichtigen Schritt weitergekommen, um das Universum zu verstehen. Wir haben jetzt zum ersten Mal einen Schlüssel in der Hand, um das Konzept der Masse zu verstehen. Das ist noch lange nicht das Ende des Weges, denn Higgs konnte nicht erklären, warum die Teilchen unterschiedliche Massen haben. Aber es ist der richtige Ansatz. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Wo könnte der praktische Nutzen einer solchen Entdeckung liegen?
Schwer zu sagen, denn hier geht es ja um Grundlagenforschung. Wir sind getrieben durch Neugier und wollen verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wo der praktische Nutzen liegt, ist heute noch nicht abzusehen. Vielleicht hilft ja der Blick in die Vergangenheit. Als vor 50 Jahren die ersten Physiker Teilchenbeschleuniger bauten, haben sie das aus genau diesem Grund getan. Heute finden wir Teilchenbeschleuniger sogar im Krankenhaus, wo sie zur Krebsbehandlung eingesetzt werden. Daran haben die Leute vor 50 Jahren noch gar nicht gedacht.
Jetzt sagen die CERN-Physiker, man brauche noch mehr Daten, um eindeutig zu sagen, ob es sich um das Higgs-Teilchen handelt. War die Pressekonferenz ein Schnellschuss, um anderen Forscherteams in den USA zuvor zu kommen?
Das denke ich nicht. Ich bin offen gestanden beeindruckt. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Experimente jetzt schon so weit sind. Das liegt daran, dass die Forscherteams ihre Analysemethoden sehr verfeinert haben. Deshalb hat man die Schwelle zur Entdeckung bereits überschritten. Von dieser Messgenauigkeit sind die Kollegen in den USA noch weit entfernt.
Können sie das noch einmal Revue passieren lassen: Was haben die Forscher am CERN genau gemacht?
Wir schießen Protonen – also kleinste Teilchen – aufeinander und versuchen, Energie auf kleinstem Raum zu erzeugen. So stellen wir Bedingungen her, wie sie kurz nach dem Urknall geherrscht haben. Die Energie ist dann so hoch, dass Teilchen wie das Higgs-Teilchen erzeugt werden. Das Higgs-Teilchen zerfällt aber schon nach Sekundenbruchteilen. Um es zu entdecken, müssen wir also mit unseren Detektoren die Zerfallsprodukte messen und daraus Rückschlüsse ziehen. Nur so können wir nachweisen, dass dort ein Teilchen erzeugt wird, das mit anderen Prozessen nicht erklärbar ist. Das ist fundamentale Quantenmechanik und die ist beherrscht von Wahrscheinlichkeiten und Statistik.
Will man auch einen Erfolg vorweisen, um die hohen Kosten zu rechtfertigen?
Natürlich freuen wir uns, mit unseren Entdeckungen die hohen Kosten, die das CERN verursacht, rechtfertigen können. Aber das ist nicht der Grund für die jetzige Präsentation. Experimente haben ergeben: Es ist eine Entdeckung. Ob es ein Higgs-Teilchen ist oder etwas anderes mindestens genauso aufregendes, das müssen wir noch ein bisschen genauer untersuchen.
Wenn das Higgs-Teilchen gefunden ist, hat das CERN tatsächlich einen Meilenstein erreicht. Was werden die Physiker dort als nächstes erforschen?
In den letzten Jahren drehte sich alles um die Suche nach dem Higgs-Teilchen. Wir wussten, dass wir diese Frage mit dem LHC-Teilchenbeschleuniger und diesen Experimenten beantworten können. So haben wir den Beschleuniger und die Detektoren vor vielen Jahren konzipiert. Die Entdeckung eines Higgs-Teilchens bedeutet, dass wir der Antwort auf die Frage nach der Masse näher gekommen sind. Das bedeutet nicht, dass wir die Frage geklärt haben, denn Higgs und sein Mechanismus erklärt nicht, warum die Teilchen die Masse haben, die sie haben.
Es löst auch viele andere Fragen nicht. Unser Modell kann nur die sichtbare Materie im Universum erklären. 96 Prozent der Materie sind aber nicht sichtbar, die kommen im Modell gar nicht vor. Wir können nicht erklären, warum es im Universum nur Materie gibt und keine Antimaterie. Eigentlich hätten sich die Materie und die Antimaterie beim Urknall vollständig vernichten sollen. Diese Fragen werden in Zukunft mehr in den Vordergrund rücken und das Higgs-Teilchen kann uns bei der Suche nach einer Antwort helfen.
Das Interview führte Michael Hartlep.
Professor Joachim Mnich ist Physiker und arbeitet am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg. Im Laufe seiner Karriere verbrachte er viele Jahre am europäischen Forschungsprojekt CERN, wo er die Welt der kleinsten Teilchen erforschte. Seit 2008 ist Mnich Direktor für den Bereich Hochenergiephysik und Astroteilchenphysik am DESY.